Hamburg. Die 22-Jährige aus Elmshorn strebt bei der Schwimm-WM Gold über 25 Kilometer an. Was treibt sie an?

Es war eine Ansage, die in ihrer Klarheit selbst im für seine strukturierten Athletinnen und Athleten bekannten Leistungssport überraschte. Um 12.55 Uhr möge man sich bitte telefonisch melden, hatte Lea Boy geschrieben. Auf die Rückfrage, wie diese für Verabredungen doch eher krumme Zeit zustande käme, antwortete die 22-Jährige pragmatisch, sie sei in der Berufsschule und habe dann Pause. Vielen Dank, Lektion gelernt: Diese Frau hat keine Zeit zu verschwenden. Schließlich kann auf ihrem Weg an die Weltspitze jede Minute wichtig werden.

Schwimm-WM: Lea Boy hat große Ziele

Lea Boy, geboren in Itzehoe, aufgewachsen in Elmshorn und seit Juli 2018 in Würzburg zu Hause, hat Großes vor in den kommenden Tagen. Bei der Schwimm-WM in Ungarns Hauptstadt Budapest starten an diesem Sonntag (13 Uhr) die Freiwasserwettkämpfe im Lupasee mit der gemischten 4x1,5-km-Staffel. Mit Boy, ihrer nun in Italien trainierenden ehemaligen Würzburger Trainingspartnerin Leonie Beck (25) und Jeannette Spiwoks (23/Essen) stehen drei Frauen für zwei Plätze zur Auswahl, entschieden werden kann bis kurz vor dem Start, aber Beck und Boy gelten als gesetzt.

Ganz sicher dabei ist Lea Boy in den Einzelrennen über zehn Kilometer am Mittwoch (8 Uhr) und 25 Kilometer am Donnerstag (9 Uhr). Ihren Platz im Fünf-Kilometer-Rennen am Montag (12 Uhr), für das sie sich vor acht Wochen in Spanien ebenfalls qualifiziert hatte, trat sie an Jeannette Spiwoks ab. „35 Rennkilometer sind genug, ich muss auch ein wenig mit meinen Kräften haushalten“, sagt sie.

Besonders auf der Langdistanz muss sich Lea Boy, die früher Handball spielte und beim Swim-Team Elmshorn gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Laura erste Erfahrungen sammelte, mit einer neuen Rolle anfreunden. Seit sie im vergangenen Jahr ebenfalls im Lupasee die gesamte kontinentale Konkurrenz düpierte und mit mehr als einer Minute Vorsprung Europameisterin wurde, werden nun alle Augen auf sie gerichtet sein.

Lea Boy zählt zu heißesten Anwärterinnen auf Gold

Zwar sind mit Ana Marcela Cunha (30/Brasilien) und der Niederländerin Sharon van Rouwendaal (28) die Top zwei des olympischen Zehn-Kilometer-Rennens von Tokio – die 25 sind nicht olympisch – ebenso am Start wie für Deutschland die EM-Sechste Elea Linka (21) von der SG Stormarn Barsbüttel. Dennoch zählt Lea Boy zu den heißesten Anwärterinnen auf die Goldmedaille. Was sie so nie sagen würde. „Ich will natürlich gern gewinnen. Aber eine Ansage, dass ich Gold holen werde, gibt es von mir nicht. Ich finde, man muss es machen, nicht darüber reden.“

Eine gesunde Einstellung ist das, die die angehende Kauffrau für Büromanagement aber nicht als fehlendes Selbstvertrauen missverstanden wissen möchte. Die Vorbereitung lief nicht optimal, wegen einer Mittelohrentzündung fiel sie einige Tage aus. Dennoch glaubt sie, für die
Herausforderungen in der notwendigen Form zu sein. Auch wenn sie offen zugibt, im Training nicht immer an ihr Leistungslimit zu gehen. „Ich weiß, dass ich nicht die Fleißigste bin. Ich schwimme zwar die nötigen Umfänge, aber nicht immer kon­stant in der Intensität, die notwendig wäre. Da muss ich besser werden. Aber zum Glück reicht mein Talent meist, um in den Rennen schnell zu sein.“

Und das zählt, schließlich wird der Titel „Trainingsweltmeisterin“ maximal inoffiziell vergeben. Wobei man weit davon entfernt ist, der Freistilspezialistin, die sich auf zwei Strecken auch für die Becken-EM in Rom (11. bis 21. August) qualifiziert hat, Faulheit vorhalten zu können. Bis zu sechs Stunden am Tag zieht sie ihre Bahnen, morgens von 7 bis 9.30 Uhr und nachmittags zwischen 15 und 18.30 Uhr. Trainiert wird ausschließlich im Becken, die Freiwasserhärte holt sie sich im Wettkampf. „Je mehr Rennen man schwimmt, desto sicherer wird man“, sagt sie.

Leerlauf im Kopfkino, das ist Lea Boys Erfolgsrezept

Um die Tortur zu überstehen, die die fast fünf Stunden im Wasser über die 25-Kilometer-Distanz mit sich bringt, kann Lea Boy auf eine Fähigkeit verweisen, die sich als extrem wichtig herausgestellt hat. „Mir gelingt es, während des Wettkampfs den Kopf auszuschalten und an nichts anderes zu denken. Viele fangen nach zwei, drei Stunden an, sich mit den Schmerzen zu beschäftigen und das Ende herbeizusehnen. Ich schwimme einfach“, sagt sie. Volle Konzentration während der Startphase und der halben Stunde, in der Tempohärte gefragt ist, ansonsten Leerlauf im Kopf­kino – das ist ihr Erfolgsrezept.

Zu was diese Fähigkeiten noch führen können, bleibt abzuwarten. Eine Medaille bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris ist ihr Fernziel, ein gutes Abschneiden bei der WM ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg dorthin. 2019 in Gwangju (Südkorea) WM-Gold mit der Staffel gewonnen zu haben helfe ihr, den Druck zu minimieren, den die als Medaillengaranten geltenden deutschen Freiwasserspezialisten schon gewohnt sind.

Welche der beiden Goldmedaillen die wichtigere für sie war, will Lea Boy nicht bewerten. „Der WM-Titel mit der Staffel war sehr besonders, ich war mit 19 Jahren das Küken im Team, so etwas vergisst man nie. Das hat mir viel Selbstvertrauen gegeben“, sagt sie. Der EM-Triumph dagegen habe ihr gezeigt, auf welche sportliche Leistungsfähigkeit sie sich verlassen könne. „Es war mein erster großer Einzelerfolg und eine Bestätigung für die harte Arbeit insbesondere während der langen Corona-Phase.“

Um 13.21 Uhr ist das Gespräch beendet. Nur 14 Minuten bleiben Lea Boy, um die Mittagspause für ihren eigentlichen Zweck – das Mittagessen – zu nutzen. Aber abschalten kann sie ja in den kommenden Tagen im Lupasee.