Vor WM-Start loben Fifa, Katar und Menschenrechtler die Fortschritte, die das Emirat gemacht hat. Vor Ort ist davon nichts zu sehen.

Die Bayern-München-Welt in Doha ist schnell gefunden: die Aspire Academy. Das Sportareal, in dem der Rekordmeister fast jährlich überwintert, gilt als die modernste und luxuriöseste Sportanlage der Welt. 750 Millionen Euro hat das Prestigeobjekt gekostet. Mit 290.000 Quadratmetern gibt es hier die größte Sporthalle der Welt, der Rasen der Fußballplätze ist auf den Millimeter genormt und das Fünfsternehotel Grand Heritage im viktorianischen Stil hat sogar eine eigene Olympia-Schwimmhalle. Auch die deutsche Nationalmannschaft hatte erwogen, in der Luxusherberge während der Weltmeisterschaft, die an diesem Donnerstag in exakt 200 Tagen beginnt, zu residieren.

Wenige Freistöße entfernt wird nicht residiert, sondern überlebt. Sieben Taxi-Minuten sind es in das Viertel Al Azizyah. Die Hauswände hier sind nicht verputzt, die Wäsche hängt vor der Tür, der Plastikmüll liegt auf der Straße. Hier, in dem Gewirr rund um die Al Muthanna bin Haritha Street, wohnen viele von denen, die diese Weltmeisterschaft überhaupt erst möglich gemacht haben: Inder, Pakistani, Filipinos, Afrikaner. „Willkommen in Katar“, sagt Taxifahrer Abraham, der aus Kenia stammt. „Willkommen in meiner Welt.“

Fußball-WM in Katar sei ein Segen für die Arbeiter

Seit Katar 2010 den Zuschlag für die WM 2022 erhalten hat, wurde über kaum ein Thema so viel berichtet wie über die Situation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten. Besonders ein missverständlicher „Guardian“-Bericht, der von 6500 Toten sprach, wurde immer wieder zitiert – auch vom Abendblatt. Wenn man Todesfälle außerhalb der Arbeit, die aber auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen sein könnten, oder im Zusammenhang mit Baustellen für bei der WM zu nutzende Infrastruktur hinzurechnet, bliebe man laut Menschenrechtsanwältin Sylvia Schenk im niedrigen dreistelligen Bereich für zehn Jahre.

„Jeder Tote ist einer zu viel“, sagt sie. Aber die „Guardian“-Zahl sei irreführend verwendet worden. Und obwohl es noch immer viel Verbesserungspotenzial gebe, sei diese WM im Nachhinein sogar ein Segen für die Arbeiter und Arbeiterinnen: „Es hat sich vieles getan, was ohne die Weltmeisterschaft wahrscheinlich so bis heute nicht verwirklicht worden wäre.“

Neun Arbeiter leben auf fünf Quadratmetern

In der kleinen Al Areej Street, in der Abraham sein Taxi jetzt abstellt, ist von diesen Verbesserungen noch nicht viel zu sehen. Der 41 Jahre alte Fahrer, der auch schon in Afghanistan und Australien gearbeitet hat, ist verbittert. „Es wird immer behauptet, dass sich die Situation der Arbeiter verbessert hat. Nur den Arbeitern hat das noch keiner verraten“, sagt der Afrikaner. Abraham ist vorsichtig. Er parkt sein Taxi ein paar Meter weiter, schaut sich um. Keine Fotos vom Gesicht, bittet er. Abraham weiß, dass er große Schwierigkeiten bekäme, wenn rauskäme, dass er mit einem Reporter spricht. Doch der sehr gläubige Vater einer Tochter, die in Kenia lebt, ist auf einer Mission: „Ich will, dass die ganze Welt sieht, wie es hier wirklich zugeht.“

Ein kurzes Telefonat, dann kommt ein anderer Kenianer aus einem der Hauseingänge. Cornelius (26) begrüßt seinen Freund, schaut sich prüfend um und bittet dann herein. Durch den Hinterhof geht es in eine Baracke, eine Eingangstür gibt es nicht. Ein dunkler Flur, dann stehen Abraham und Cornelius in seinem Raum, in dem auch Isack (32) auf seine Freunde wartet. Fünf Quadratmeter. Für neun Bewohner. Sechs schlafen in drei Hochbetten, einer in einem kleinen Ein-Mann-Bett, zwei auf Matratzen auf dem Fußboden. Das Bad ist ein kaum benutzbares Waschbecken, die Küche ein uralter Elektroherd mitten im Flur. An den Wänden ist Schimmel, es stinkt.

In diesem rund fünf Quadratmeter großen Zimmer wohnen neben Cornelius und Isack noch sieben weitere Kenianer. Zwei müssen auf dem Fußboden schlafen.
In diesem rund fünf Quadratmeter großen Zimmer wohnen neben Cornelius und Isack noch sieben weitere Kenianer. Zwei müssen auf dem Fußboden schlafen. © Kai Schiller (FMG) | Kai Schiller (FMG)

Fifa: Katar sei auf dem Weg der Besserung

„Wie von internationalen Expertenorganisationen allgemein anerkannt, hat die WM bereits erheblich zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Region beigetragen, und es ist klar, dass Katar auf dem richtigen Weg ist“, ließ sich nur wenige Tage zuvor Joyce Cook, die Leiterin der Fifa-Abteilung für soziale Verantwortung und Ausbildung, nach einem Treffen mit Amnesty International zitieren. „Katar hat in vergleichsweise kurzer Zeit umfassende Arbeitsreformen eingeführt und erhebliche Fortschritte erzielt.“

Das Bad. In Katar gibt es 2,3 Millionen Arbeitsmigranten.
Das Bad. In Katar gibt es 2,3 Millionen Arbeitsmigranten. © Kai Schiller (FMG) | Kai Schiller (FMG)

Doch Abraham, Cornelius und Isack können nicht mehr glauben, dass diese Fortschritte auch bei ihnen ankommen. Besonders Cornelius, der als Motorradkurier bei einem Lieferservice arbeitet, und Isack, der nach einem Streit mit seinem letzten Arbeitgeber arbeitslos ist, sind verzweifelt. Obwohl die Kafala, das Leibeigenen-System, nach jahrelangen Protesten offiziell bereits seit zwei Jahren abgeschafft ist, hat Cornelius‘ Chef noch immer dessen Reisepass. Noch schlimmer beschreibt es Isack, dessen Aufenthaltsstatus durch die Kündigung seines Arbeitgebers demnächst abläuft.

Menschenrechtskomitee: Wie viel Hilfe ist zu erwarten?

Sein letzter Auftraggeber soll ihm Geld schulden, das er aber als Illegaler nicht bekommen wird. Sowohl Cornelius als auch Isack zeigen jede Menge Dokumente, um ihre Geschichte zu stützen. Endgültig beweisen lassen sich die Vorwürfe vor Ort aber nicht. „Wir müssen etwas tun“, sagt Abraham, der den beiden rät, sich an Katars Menschenrechtskomitee zu wenden. „Ihr müsst kämpfen.“

Hier kommen die Arbeitsmigranten in Katar unter.
Hier kommen die Arbeitsmigranten in Katar unter. © Kai Schiller (FMG) | Kai Schiller (FMG)

Ein echter Kampf ist es aber schon, einen Termin im National Human Rights Committee (NHRC) zu erhalten. Das unscheinbare Bürogebäude liegt im Zentrum Dohas nahe der viel befahrenen Al Diwan Street. Nach mehreren Anrufen und einem ersten Besuch, bei dem man noch keine Zeit hat, um mit Medienvertretern aus Deutschland über die Menschenrechtssituation in Katar zu sprechen, klappt es dann doch mit einem Treffen. Am Eingang hängt ein großes Bild von Katars Emir Tamim bin Hamad Al Thani. Doch Ameera Ali Al-Hedfa, die Direktorin für Internationale Kooperationen, beschwichtigt bereits bei der Begrüßung: „Wir sind eine unabhängige Organisation.“ Wirklich? „Wirklich!“

Katar: Mindestlöhne, Frauenrechte und Bildung

Al-Hedfa trägt ein langes schwarzes Übergewand, ein sogenanntes Abaya, die Haare werden durch einen schwarzen Shayla verhüllt. Die gebürtige Katari spricht fließend Englisch, ist aber aufgeregt. „Wir wollen die Menschrechts­situation im Land verbessern“, sagt die Direktorin, die mehrfach das Interview unterbricht, um sich auf Arabisch mit dem Pressesprecher abzustimmen. „Vor der WM war die Entwicklung sehr langsam. Aber die WM hat uns geholfen.“

Die höfliche Frau, die in Genf Internationale Beziehungen studiert hat, spricht von Mindestlöhnen, Frauenrechten und Bildung. Nur bei der schwierigen Situation von Homosexuellen im Land bittet sie um Verständnis. „Wir sind ein konservatives Land und es gibt Herausforderungen“, sagt sie – und erklärt, dass sie keine juristischen Kenntnisse in dieser Hinsicht habe. Aber: „Wir haben noch keine Beschwerde erhalten.“

Es gibt zu viele Probleme

Bei den Arbeitsmigranten und -migrantinnen sei das anders. „Ich würde allen Arbeitern raten, hier zu uns zu kommen, wenn sie Probleme haben“, sagt Al-Hedfa, die – als sie die Geschichte von Cornelius und Isack hört – auch den beiden Kenianern rät, sich an das Human Rights Committee zu wenden.

Das Problem: Es gibt einfach zu viele Probleme. „Es gibt rechtliche Fortschritte, das leugnet niemand. Es mangelt allerdings vielfach an der Umsetzung“, sagt Sylvia Schenk. In Katar leben 2,3 Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten, die somit 95 Prozent der Arbeitskraft des Emirats stellen. Nur 20.000 von ihnen arbeiten auf den WM-Baustellen, die seit zehn Jahren im Fokus der Weltöffentlichkeit sind.

Katar hat noch viel vor sich

„Vieles hat sich getan, vieles muss noch getan werden“, sagt Schenk. Doch auch die Arbeitskräfte, die nichts mit der WM direkt zu tun haben, leiden nach wie vor unter schlechten Arbeitsbedingungen. Bis vor Kurzem durften sie nur mit Einverständnis des Arbeitgebers den Job wechseln oder sogar das Land verlassen. Ein Gesetz, das offiziell abgeschafft wurde. Doch laut Amnesty International hat erst kürzlich Katars Schura-Rat, eine unterstützende Versammlung, der Regierung vorgeschlagen, einen Großteil dieser Reformen wieder rückgängig zu machen. „Die muss endlich handeln“, stand im letzten Amnesty-Report.

Im Gespräch mit dem Abendblatt warnt Schenk dennoch vor übertriebener Kritik: „Es gibt in Katar konservative und fortschrittliche Stimmen sowie ganz viele dazwischen“, sagt die Menschenrechtsanwältin, die bereits dreimal in Katar war und sich auch bei der WM ein Bild von der Lage im Land machen will. „Unser Ziel muss es sein, die Reformkräfte zu stärken, statt ihnen durch überzogene Kritik in den Rücken zu fallen.“

Human Rights Committee: Großer Andrang, kleine Hoffnung

Auf diese Reformkräfte würden auch Abraham, Isack und Cornelius gerne setzen. Wenige Tage nach dem Treffen in der Baracke fasst zumindest Isack all seinen Mut zusammen und geht frühmorgens zum Human Rights Committee. Der Andrang ist groß, die Hoffnungen klein. Nach stundenlangem Warten darf der Afrikaner, der aus Nyeri im südlichen Zentrum Kenias kommt, vorsprechen. Es geht unter anderem um die Frage, warum er von seinem früheren Arbeitgeber nicht den Mindestlohn von 1000 Riyad, rund 250 Euro, erhalten hat. Isack erhält eine 19-stellige Beschwerdenummer, dann wird er nach Hause geschickt. Man werde sich wieder bei ihm melden.

Einen Monat später hat sich noch immer niemand bei Isack gemeldet. Am 8. Juni läuft seine Aufenthaltserlaubnis ab, dann müsste er zurück nach Kenia. Ohne Lösung, ohne Geld und ohne Hoffnung. „Ich bin verzweifelt“, sagt Isack und wischt sich die Tränen aus den Augen. „Ich brauche das Geld für meine Familie zu Hause.“

Immerhin für Cornelius gibt es Licht am Ende des Tunnels. Er hat eine Zusage, für die Royal Carribbean Group auf einem Kreuzfahrtschiff als Kellner zu arbeiten. Sein monatlicher Lohn: 829 Dollar. Das ist deutlich mehr, als er jemals in Katar erhalten hätte.

Kreuzfahrtschiffe sollen auch während der WM eine große Rolle spielen, um den zahlreichen Fans aus der ganzen Welt genügend Unterkünfte zu bieten. Die Kosten für 14 Tage auf einem dieser Kreuzfahrtriesen vor Doha: 8000 Euro. Ein Schnäppchen.

Fußball-WM in Katar: 23,5 Millionen Tickets bereits verkauft

„Ich freue mich auf die WM“, sagt Abraham, als er sein Taxi zurück ins Zentrum Dohas steuert. Wieder geht es vorbei an der luxuriösen Aspire Academy, wo vor Kurzem Fifa-Chef Gianni Infantino mit ein paar Altstars wie Luis Figo, An­drea Pirlo und Iker Casillas selbst noch Fußball gespielt hat. „Ich hoffe, dass so viele Menschen wie möglich kommen und sehen, wie es den Arbeitern in Katar geht“, sagt Abraham.

Zumindest dieser Wunsch könnte in Erfüllung gehen. Erst vor Kurzem verschickte die Fifa eine Pressemitteilung: „Enormes Interesse an Tickets für die WM Katar 2022“, stand in der Überschrift. Darunter hieß es, dass bereits 23,5 Millionen Ticketbestellungen eingegangen seien. Die Fußballwelt, so scheint es 200 Tage vor dem ersten Anstoß, kann diese WM kaum erwarten.