Oberstdorf. Im nasskalten Oberstdorf beginnt heute die 70. Ausgabe der Vierschanzentournee – beendet der Allgäuer die deutsche Sieglosserie?

Die „gmiatlichen Tage“, die Karl Geiger mit Frau und Tochter rund um den kindersicheren Weihnachtsbaum verbracht hat, sind vorbei. Die knapp ein Jahr alte Luisa musste (erfolgreich) daran gehindert werden, die Christbäume daheim umzuwerfen: „Den kleinen habe ich sogar angebunden.“

Statt heimeliger Wärme im Wohnzimmer erwartet den 28 Jahre alten Gelb-Träger direkt wieder der Ernst des Sportlerlebens: In seiner nasskalten Heimat Oberstdorf beginnt am Dienstag (16.30 Uhr/ARD und Eurosport) die 70. Vierschanzentournee der Skispringer, zunächst mit der Qualifikation. „Ich fühle mich der ganzen Sache gewachsen, ich fühle mich bereit. Ich freue mich auf die Wettkämpfe“, sagte Geiger am Montag.

Skispringen: Geiger startet als Favorit

Als Gesamtführender startet der Lokalmatador natürlich als Favorit in das Prestigeevent, das coronabedingt erneut ohne Zuschauer auskommen muss. Beim Spaziergang durch den idyllischen Ort im Allgäu hat Geiger trotzdem Vorfreude und Begeisterung ausgemacht. „Heute war einiges los auf der Straße. Weihnachten war ruhiger. Ich habe das Gefühl, dass schon viel Vorfreude auf die Tournee da ist“, sagte Geiger. Am Montagmittag ging es für die deutschen Skispringer dann ins Teamhotel in Tiefenbach, einem Ortsteil von Oberstdorf.

„Daheim mit dem Gelben Trikot als Letzter oben auf der Schanze zu sitzen, ist natürlich ein Privileg. Aber natürlich ist die Situation auch nicht einfach“, sagt Geiger. Jahr für Jahr hat sich der akribische Arbeiter – der ausgebildete „Bachelor of Engineering“ wird in der Szene gern „Skisprung-Ingenieur“ genannt – näher an den Moment herangearbeitet, in dem endlich alles funktioniert. „Ich habe das ganze Emotionsspektrum bei der Tournee ausgereizt.“

„Er kann weit springen, er landet gut"

Es begann bei den ersten beiden Tourneen mit dem Aus in der Qualifikation vor der eigenen Haustür: „Eine ganz bittere Nummer.“ Geiger stand jedoch immer wieder auf und kam stärker zurück: Vor zwei Jahren glückte ihm als Dritter der Gesamtwertung zum ersten Mal der Sprung aufs Podest. Im vergangenen Winter gewann der Oberstdorfer den Tournee-Start vor seiner Haustür und wurde Gesamtzweiter hinter Kamil Stoch. Folgt jetzt endlich der langersehnte deutsche Triumph?

Bundestrainer Stefan Horngacher (52) hörte unmittelbar vor dem Start der Tournee gar nicht mehr auf, seinen besten Mann zu loben. Das Gesamtpaket Geiger sei das Erfolgsrezept. „Er kann weit springen, er landet gut, er springt gut weg, er trainiert viel, er hat einen guten Körper“, schwärmte Horngacher, der mit seinem Team die 20 Jahre lange Flaute seit Sven Hannawalds Vierfachsieg unbedingt beenden möchte. „Deutschland hat immer gut bei der Tournee abgeschnitten, aber den Sieg nie erreicht. Natürlich gehen wir wieder mit dem Siegesziel hin“, kündigte Horngacher selbstbewusst an.

Kobayashi ist der härteste Konkurrent

Einen Mit- oder Topfavorit in Oberstdorf stellen, aber wieder keinen goldenen Adler in Bischofshofen gewinnen: So lief die Tournee in den vergangenen Jahren diverse Male. Auch diesmal gibt es in Norwegens Gesamtweltcup-Sieger Halvor Egner Granerud, dem Österreicher Stefan Kraft und Polens Titelverteidiger Kamil Stoch viel Konkurrenz.

Der härteste Rivale dürfte aber Japans Ryoyu Kobayashi (25) sein, der trotz Corona-Quarantäne und mehrerer verpasster Wettbewerbe auf Platz zwei im Gesamtweltcup steht. „Kobayashi springt saugut“, kommentierte Geiger. Die beiden Topfavoriten sind komplett unterschiedliche Typen. Geiger ist ein bodenständiger Familienvater, der sich in seinem Skispringer-Leben alles hart erarbeiten musste. Der Social-Media-Experte aus Fernost liebt dagegen schnelle Autos genauso wie hübsche Frauen und gilt als Naturtalent in der Luft.

„Kobayashi ist wie ein aggressiver Pfeil in der Luft"

„Bei Karl steht und fällt alles mit dem Absprung. Und er bekommt es fast immer punktgenau hin. Keiner im Feld der Top-Skispringer hat da ähnliche Qualitäten wie er. Kobayashi nimmt beim Absprung zwar nicht so viel Höhe wie Karl mit, dafür aber mehr Geschwindigkeit“ analysiert der letzte deutsche Tournee-Gesamtsieger Sven Hannawald: „Kobayashi ist wie ein aggressiver Pfeil in der Luft. Er ist deshalb nicht so hoch über dem Hang und kann deshalb Sprünge in größeren Weitenbereich besser landen als Karl. Das kann zum Vorteil für den Japaner werden.“ Geiger gilt dafür als mental extrem starker Athlet.

Die Statistik in Sachen Gelbes Trikot spricht freilich nicht für Geiger: Fünfmal startete ein deutscher Skispringer bisher als Gesamtweltcup-Spitzenreiter in die Tournee, zum Gesamtsieg reichte es nie. Zuletzt scheiterte 2017 Richard Freitag nach einem Sturz in Innsbruck. Karl Geiger ist allerdings der Mann für die unmöglich scheinenden Dinge. Früher galt er als Kleinschanzen-Spezialist und wurde im vergangenen Winter doch Skiflug-Weltmeister.

Siegerpreisgeld beträgt 100.000 Schweizer Franken

Über den deutschen Tourneefluch macht sich der Familienvater sowieso keine Gedanken. Seit Hannawald sind nicht nur er und der zuletzt schwächelnde Markus Eisenbichler, sondern auch Severin Freund, Richard Freitag und Andreas Wellinger am Gewinn des Traditionsevents gescheitert. „Ob es 20 Jahre her ist oder 27 oder zwölf, das macht keinen Unterschied. Die Tournee geht mit der Quali los, dann geht sie zehn Tage“, sagte Geiger.

Finanziell wäre jetzt der ideale Zeitpunkt, die Tournee zu gewinnen. Das Siegerpreisgeld wurde verfünffacht, aus 20.000 Schweizer Franken wurden 100.000 (circa 96.000 Euro). Chefcoach Horngacher sieht diese Steigerung nur als logische Folge.

Skispringen: Chefcoach befürwortet die Erhöhung

„Endlich hat man begriffen, was die Jungs hier für eine Leistung bringen. Man kann darüber diskutieren, ob das eigentlich genug ist, wenn man schaut, welcher Fokus und Druck dahintersteckt.“ Bei der Qualifikation geht es zunächst darum, sich eine gute Ausgangsposition für das Auftaktspringen (Mi., 16.30 Uhr) zu erspringen. Auch dann soll es wieder kräftig regnen.