Hamburg. Vorstandschefin Veronika Rücker über die Querelen im Deutschen Olympischen Sportbund, ihre Tokio-Bilanz und die Corona-Folgen.

Die großen Themen der vergangenen Monate – die Diskussionen um die Führungskultur im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und das nicht zufriedenstellende Abschneiden bei den Olympischen Spielen in Tokio – beschäftigen Veronika Rücker nachhaltig.

„Es wird eine riesengroße Herausforderung für den gesamten deutschen Sport, all das aufzuarbeiten, was gerade passiert“, sagt die Vorstandsvorsitzende des DOSB. Bis Ende 2022 läuft ihre erste Amtszeit, und dass die 51-Jährige, die 2018 auf Michael Vesper folgte, gewillt ist, die Herausforderungen anzunehmen, wird im Gespräch deutlich.

Hamburger Abendblatt: Frau Rücker, Medaillenziel deutlich verfehlt, dazu das schwächste Abschneiden im Mannschaftssport seit 1996 – wie fällt mit einigen Wochen Abstand Ihr Tokio-Fazit aus?

Veronika Rücker: Zunächst einmal war es ein Segen für das Team D und den gesamten Weltsport, dass die Spiele stattfinden konnten. Trotz der Rahmenbedingungen waren es Spiele für den Sport, für die Athletinnen und Athleten, die sehr dankbar dafür waren. Wenn man allein auf die Medaillenbilanz schaut, dann ist das Abschneiden nicht schönzureden. Nimmt man die Plätze vier bis acht in die Wertung, waren wir besser als 2016 in Rio de Janeiro. Und hätten beispielsweise am Schlusswochenende Johannes Vetter im Speerwurf, Jonathan Horne im Karate und Annika Schleu im Modernen Fünfkampf nicht so viel Pech gehabt, stünden wir mit drei weiteren Goldmedaillen auch anders da. Der Medaillenspiegel ist immer nur eine Momentaufnahme und ein Teil der Bilanz, unser Fazit fällt differenzierter aus.

Dennoch bleibt ein Rückgang der Medaillenzahl. Welche Schlüsse sind zu ziehen?

Rücker: Natürlich sind wir alle gefordert, die Hintergründe mit Blick auf die nächsten Spiele in Paris zu analysieren, und das mit gebotener Eile, weil es nur drei statt vier Jahre sind, die bleiben. Dass wir im Teamsport keine Medaille geholt haben, stimmt uns genauso nachdenklich wie der Fakt, dass wir in allen neuen olympischen Sportarten wie Klettern oder Skateboarding leer ausgegangen sind. Da müssen wir rasch dafür sorgen, dass wir die Voraussetzungen und die Infrastruktur weiter verbessern, um international konkurrenzfähig zu werden.

Manche sagen, es fehlt an Geld, obwohl der Leistungssportetat bei fast 300 Millionen Euro im Jahr liegt. Andere sagen, das Geld müsse besser verteilt werden. Wer hat recht?

Rücker: Ich wäre eine schlechte Interessenvertreterin der Verbände, wenn ich sagte, dass wir ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung haben. Aber das Abschneiden auf den Faktor Geld allein zu schieben, das wäre nicht zutreffend.

Also muss das vorhandene Geld besser eingesetzt werden. Zum Beispiel, um die Strukturen im Bereich der Trainerinnen und Trainer zu verbessern?

Rücker: Das ist eine zentrale Stellschraube im gesamten System, und da gibt es viele Ansatzpunkte, an denen wir weitere Verbesserungen anschieben müssen, von ganz unten in den Vereinen bis ganz nach oben im Spitzensport. Wir haben das erkannt und müssen jetzt in die Umsetzung kommen. Tatsächlich gibt es unter anderem in diesem wichtigen Bereich noch erheblichen Diskussionsbedarf, was die Finanzierung betrifft.

Brauchen wir im deutschen Sport mehr Profitum? Ist das duale System aus Ausbildung und Sport, für das Deutschland bekannt ist, noch zeitgemäß?

Rücker: Wenn Profitum bedeutet, dass mehr Geld verdient werden muss, würde ich diese Frage nicht pauschal bejahen. Wenn es bedeutet, dass wir Strukturen optimieren, zum Beispiel mehr auf Zen­tralisierung und klare Steuerung setzen, um die Trainingsintensität und -qualität zu verbessern, dann stimme ich dem zu. Ein anderer Punkt ist in diesem Zusammenhang aber elementar, und zwar die Frage, wie wir es schaffen, die Anerkennung für den Leistungssport in der Gesellschaft zu erhöhen. Davon hängt ab, in welche Richtung er sich entwickeln lässt.

Und, wie schaffen wir das, wenn selbst Dagmar Freitag, die Sportbeauftragte des Bundestags, die zur Wahl ihr Mandat aufgibt, eher als Chefkritikerin des Sports auftritt?

Rücker: Auch wir im DOSB nehmen wahr, dass die parlamentarischen Interessenvertreter anderer gesellschaftlicher Bereiche wie zum Beispiel der Kultur oder Wirtschaft als deutlich stärkere Unterstützerinnen oder Unterstützer ihrer Klientel auftreten. Aber wir haben in zwei Wochen ja die Bundestagswahl, die eine Veränderung bringt, deshalb blicken wir mit Zuversicht in die Zukunft.

Was muss der DOSB tun, um den im Vergleich zu vielen anderen Nationen deutlich geringeren Stellenwert des Leistungssports in der Gesellschaft zu erhöhen?

Rücker: Wir müssen eine intensive Diskussion über den gesellschaftlichen Stellenwert von Leistungssport führen. Olympische Spiele werden in der Bevölkerung immer sehr gut angenommen, das hat auch Tokio wieder gezeigt. Aber der Leistungssport findet abseits von Olympia zu wenig Beachtung und Wertschätzung. Darüber müssen wir einen breiten gesellschaftlichen Diskurs führen, an dessen Ende wir eine Vorstellung davon entwickelt haben sollten, welchen Stellenwert der Sport in unserer Gesellschaft haben soll und was jeder Einzelne dazu beitragen kann.

Umso mehr muss es Sie beunruhigen, welches Bild der DOSB abgibt, seit ein anonymes Schreiben im Mai das Betriebsklima unter Präsident Alfons Hörmann scharf kritisierte und eine Kultur der Angst anprangerte. Nehmen Sie diese Kultur auch wahr?

Rücker: Zunächst möchte ich betonen, dass wir dieses Schreiben selbstverständlich sehr ernst nehmen. Auf der anderen Seite muss ich deutlich sagen, dass ich von dem Gesamtbild, das dort gezeichnet wurde, total überrascht war, und das ging der gesamten Führungsriege und vielen Mitarbeitenden so. Deshalb gehen wir all diesen Fragen seit Monaten intensiv auf den Grund. Wir haben unmittelbar die Ethikkommission um Prüfung gebeten und zusätzlich eine unabhängige Kulturanalyse in Auftrag gegeben. Der Bericht der Ethikkommission hat klar herausgestellt, dass sich die konkreten Vorwürfe nicht bestätigen lassen. Die Ergebnisse der Kulturanalyse werden wir in den nächsten Wochen zunächst intern besprechen und dann gemeinsam die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

Man kann dennoch nicht ausschließen, dass der Anlass für das Schreiben tatsächlich ein gravierender war. Glauben Sie, dass die Verfasser die Konsequenzen bewusst in Kauf genommen haben?

Rücker: Ich will über die Beweggründe nicht spekulieren. Fakt ist, dass das Schreiben nicht nur der Geschäftsstelle des DOSB geschadet hat, sondern dem gesamten Dachverband und letztlich auch dem organisierten Sport in seiner Gesamtheit. Das Image, das nun kursiert, ist so schnell nicht wieder zu verändern, und es wird ein enormer Kraftakt auch für eine neue Führung, das Vertrauen in die Institutionen zurückzugewinnen. Und das in einer Zeit, in der wir gerade Vertrauen und Teamgeist dringend bräuchten. Den Beweggrund dafür, eine gesamte Organisation derart in Misskredit zu bringen, kann ich nicht verstehen.

Wenn man die Diskussionen, die daraus entstanden sind, verfolgt hat, ist ein Beweggrund sicherlich der Wunsch nach Veränderung. Es gibt Stimmen wie zum Beispiel die von Michael Groß, der sogar den DOSB in seiner jetzigen Form zur Disposition stellt. Anfang Dezember stellt Alfons Hörmann sein Amt zur Verfügung. Reicht es, nur einen neuen Präsidenten oder eine neue Präsidentin zu wählen, oder braucht der DOSB eine grundlegende Strukturreform?

Rücker: Wenn Sie mich persönlich fragen, braucht er weder das eine noch das andere. Aber die Themenstellungen, denen wir uns seit Monaten stellen, rütteln nun auch an Grundfesten, die wir schon lange überstanden glaubten. Insofern wird es sicherlich nicht reichen, nur die Führung auszutauschen. Es wird ausführliche Diskussionen geben müssen. Aber das ist ein Prozess, der angeschoben wurde. In diesem Zusammenhang verstehen wir auch das Engagement der unterschiedlichen Arbeitsgruppen der DOSB-Mitgliedsorganisationen. Sobald wir die Vorschläge kennen, die sie erarbeitet haben, werden Präsidium und Vorstand des DOSB ihre Perspektive und Expertise gerne in die Diskussion einbringen.

Wie sinnvoll ist es angesichts dieser Herausforderungen, sich mit dem wichtigsten Geldgeber anzulegen? In der „FAZ“ war zu lesen, DOSB und Bundesinnenministerium seien „ziemlich beste Feinde“. Stimmt das?

Rücker: Ich habe den Bericht gelesen und kann dazu nur sagen, dass er aus einer Einzelperspektive heraus Zustände beschreibt und interpretiert, die weitgehend nicht zutreffen und vor allem auch Jahre zurückliegen. Das Verhältnis zum BMI ist gut. Wir arbeiten partnerschaftlich und gemeinsam an Lösungen. Dass wir an manchen Stellen unterschiedliche Sichtweisen haben und diese auch intensiv und leidenschaftlich diskutieren, liegt in der Natur der Sache, weil wir auch ganz unterschiedliche Interessen vertreten. Aber aus meiner Sicht haben wir einen guten Weg gefunden, um die vielschichtigen Themen in konstruktivem Miteinander zu bearbeiten.

Der Bericht wirft am Ende die Frage auf, für was die olympische Idee in einem Land wie Deutschland heute noch steht. Wie lautet Ihre Antwort darauf?

Rücker: Die olympische Idee hat nach wie vor ein unerschöpfliches Potenzial für die Gesellschaft, weil Werte wie Fairplay, Respekt und Leistungsbereitschaft heute so aktuell sind wie eh und je. Uns ist aber klar, dass wir diese Idee wieder so positiv aufladen müssen, dass wir die Gesellschaft damit erreichen und begeistern.

Halten Sie eine erneute deutsche Olympiabewerbung für zielführend?

Rücker: Auf jeden Fall, aber dafür müssen wir die Bevölkerung mitnehmen. Es muss eine intrinsische Motivation der Bevölkerung geben, die Spiele in Deutschland ausrichten zu wollen. Der Wunsch, Teil dieser olympischen Idee zu sein, muss wachsen und aus der Gesellschaft kommen. Wir müssen den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Ort und das richtige Konzept dafür finden, dann kann es gelingen.

Ist der richtige Zeitpunkt 2036 in Berlin?

Rücker: Diese Diskussion darüber, ob wir bereit sind, 100 Jahre nach den Nazi-Spielen in Berlin an selber Stelle zu beweisen, dass wir eine andere Nation geworden sind, ist politisch und moralisch aufgeladen. Ich wünsche mir darüber einen breiten gesellschaftlichen Diskurs. Ohne die Zustimmung der Bevölkerung wird es in Deutschland keine Spiele geben.

Bleibt eine Frage, die die Gesellschaft in den vergangenen 18 Monaten dominiert hat: Welche Konsequenzen hat die Corona-Krise tatsächlich auf den Leistungssport gehabt?

Rücker: Welche Auswirkungen Corona auf die Tokio-Spiele hatte, werden wir nie erfahren. Einen endgültigen Blick darauf, was die Krise für den deutschen Sport bedeutet, wird es erst in einigen Jahren geben können. Aus vielen Vereinen ist zu hören, dass sich die Mitgliederzahlen langsam stabilisieren. Aber was uns an Ehrenamtlichen im strukturellen und operativen Bereich verloren gegangen ist und welche Auswirkungen das vor allem auf die Arbeit an der Basis und den Nachwuchsleistungssport hat und haben wird, ist heute noch nicht vorauszusagen. Corona war zwischenmenschlich ein harter Einschnitt. Der virtuelle Dialog ist nun mal ein anderer als der persönliche. Da hat sich vieles aufgestaut. Wir müssen, das gilt für den DOSB wie für die Gesellschaft, wieder in ein gutes persönliches Miteinander zurückfinden. Dann bin ich positiv gestimmt, dass wir die großen Herausforderungen meistern.