Hamburg. NRV-Steuerfrau Luise Wanser und Anastasiya Winkel segeln im Sommer in Tokio um eine Olympia-Medaille.

Es war ein echtes Herzschlagfinale: Bei der Weltmeisterschaft Mitte März in Portugal brachten Luise Wanser und Anastasiya Winkel ihre 470er-Segeljolle mit nur fünf Meter Vorsprung vor den nationalen Rivalinnen ins Ziel. Für die 23-jährige Hamburgerin und ihre 27-jährige Vorschoterin ein sensationeller Erfolg: Die für den Norddeutschen Regatta Verein startende Crew darf bei Olympia antreten.

Im Segelrevier Enoshima wollen sie eine Medaille gewinnen

Es war das Ende eines einjährigen Kraftakts – mit Mannschaftswechseln und Neuformierung waren ihre Plätze im Förderkader verloren gegangen. Doch der Weg war nicht ihr Ziel: Im Segelrevier Enoshima wollen sie eine Medaille gewinnen.

Rückblende: Anastasiya Winkel wächst in Altschewsk in der Ostukraine auf, startet früh als Leistungsschwimmerin durch. Weil aber das Schwimmbad für Reparaturen einen Sommer lang geschlossen bleibt, lernt sie über eine Freundin als Zwölfjährige erst das Windsurfen, dann den Segelsport auf dem nahen Stausee kennen. „Ich habe es sofort geliebt. Segeln ist so vielseitig“, erzählt sie mit glänzenden Augen.

Nach sportlicher und emotionaler Achterbahnfahrt durch das ukrainische Leistungssportsystem, in dem sie Erfolge erzielt, aber auch Rückschläge und Härten erdulden muss, segelt Anastasiya bei der Junioren-Weltmeisterschaft 2014 unter ihrem Mädchennamen Krasko mit Steuerfrau Anna Kyselova auf Platz neun.

Ein Ereignis, das Anastasiya Winkels Leben für immer veränderte

Es ist jedoch ein anderes Ereignis, das ihr Leben am Finaltag für immer verändern wird: Bei der Siegerfeier verlieben sich die damals 19-jährige Sportwissenschaftsstudentin und der deutsche WM-Bronzemedaillen-Gewinner Malte Winkel ineinander.

Nach eineinhalb Jahren Fernbeziehung, in denen Anastasiyas Familie die Heimat in der Gegend von Luhansk im 2014 ausbrechenden Ostukraine-Krieg zeitweise verlässt und bei Verwandten in Russland Schutz sucht, sieht sie in der Heimat für sich kaum mehr sportliche Entwicklungsmöglichkeiten.

Anastasiya Winkels Olympia-Traum scheint geplatzt

Malte Winkels Engagement für seine große Liebe sowie die Unterstützung weiterer deutscher Akteure führen dazu, dass Anastasiya zunächst mit NRV-Steuerfrau Fabienne Oster ein neues Team unter deutscher Flagge bilden kann.

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Das funktioniert für die Frau, die Malte Winkel am 26. August 2017 im Schweriner Yacht-Club heiratet, dank des Okays vom Ex-Verband und der Unterstützung vom Deutschen Segler-Verband auch mit ukrainischem Pass. Mit Weltcup-Silber holen Oster/Winkel 2019 ihr bestes Ergebnis, sind sich aber sportlich nicht immer einig und trennen sich vor Ausbruch der Corona-Krise. Anastasiya Winkels Olympia-Traum scheint geplatzt.

Umstieg ins Windsurfen

Ein Anruf im März 2020 aber holt sie in den geliebten 470er („Viersiebziger“) zurück. Am Telefon ist Luise Wanser. Geboren in Essen, vom zweiten bis zum neunten Lebensjahr in Paris aufgewachsen und dann mit der Familie nach Hamburg umgezogen, ist die Steuerfrau auf der Suche nach einer Vorschoterin.

Auch ihr Olympia-Traum schien schon ausgeträumt, nachdem sich Schwester Helena Wanser nach siebenjähriger Teamgemeinschaft Ende 2019 zum Umstieg ins Windsurfen entschließt. Und das, obwohl die Wanser-Schwestern bei der Junioren-WM 2019 Gold gewinnen. Sie wussten auch, dass der 470er ab 2024 nur noch von Mixed-Crews – einer Frau und einem Mann – gesegelt wird und sie nach Olympia 2020 ohnehin getrennte Wege würden gehen müssen. Diesen neuen Kurs schlägt Helena Wanser bei nur noch geringen Olympia-Aussichten Ende 2019 frühzeitig ein.

Chance in der Krise

Luise will nicht glauben, dass es vorbei sein soll: „Ich konnte mein Lebensziel nicht aufgeben.“ Am 24. März 2020 werden die Spiele auf 2021 verschoben. Die Verlängerung begreift Luise Wanser als Chance in der Krise. Sie wendet sich an NRV-Clubmanager Klaus Lahme. Der gibt den entscheidenden Tipp: „Ruf doch Anastasiya an.“ Am 30. März 2020 sitzen Luise Wanser und Anastasiya Winkel erstmals vor Kiel in einem Boot.

In der fordernden Pandemie hat das neue Duo kaum ein Jahr Zeit, sich auf die Olympia-Qualifikation vorzubereiten. Die Chemie zwischen den beiden ehrgeizigen Charakteren mit analytischer Herangehensweise stimmt. Als neues Team mit Last-Minute-Mission haben sie keinen Anspruch auf Verbandsförderung. Ihr Budget ist brutal knapp.

Intensives Training

Der Heimatverein hilft beim Bezahlen des italienischen Trainers Riccardo De Felice, beim Kauf eines 470ers, stellt ein Coach-Boot und ein Auto zur Verfügung. Ein Jahr lang trainieren die Frauen erst in Kiel, dann in sizilianischen Gewässern intensiver als alle anderen: Sie sind 22 bis 26 Tage im Monat auf dem Wasser, kämpfen in einer starken italienischen Trainingsgruppe für ihre Chance.

Dass sie im Intensiv-Einsatz in starker Welle und viel Wind zu einer neuen Macht heranreifen, bleibt zu Hause vorerst unbemerkt. Es gibt in der 470er-Klasse vor und in der Pandemie über mehr als eineinhalb Jahre keine großen Regatten, die Aufschluss über Leistungen hätten geben können.

Luise Wanser und Anastasiya Winkel stellen Hackordnung auf den Kopf

So gelten vor der entscheidenden WM in Portugal im März 2021 die 470er-Seglerinnen Frederike Loewe und Anna Markfort aus Berlin als klare Favoritinnen im Ringen um nur eine Olympia-Fahrkarte. Doch noch vor dem WM-Showdown stellen Luise Wanser und Anastasiya Winkel die gewohnte Hackordnung auf den Kopf. Sie gewinnen die Aufwärm-Regatta im WM-Revier von Vilamoura.

Dabei lassen sie die britische Olympiasiegerin Hannah Mills, internationale WM-Favoritinnen und deutsche Konkurrenz hinter sich. „Das hat uns für die WM enormes Selbstvertrauen gegeben. Wir haben begriffen, dass wir siegen können“, erklärt Wanser den Wert der Galavorstellung bei der ersten gemeinsam mit Anastasiya bestrittenen Regatta.

Wanser und Winkel meistern die WM nervenstark

Die WM selbst meistern Wanser und Winkel nervenstark und auf den Punkt konzentriert. Im Krimi-Finale muss sich Malte Winkels Schwester Birte Winkel im Boot von Theres Dahnke der Schwägerin und früheren WG-Mitbewohnerin Anastasiya Winkel und Luise Wanser geschlagen geben. Die hungrigen Außenseiterinnen Wanser/Winkel setzen sich mit WM-Platz neun gegen die Kielerinnen Dahnke/Winkel durch.

Ein Punkt Vorsprung gibt den Ausschlag über olympisches Sein oder Nichtsein. Auf die Frage nach dem Schlüssel zum Erfolg erklärt Anastasiya Winkel nun: „Mein erster Trainer hat mir Willen beigebracht.“ Zum Abschluss ihres Studiums fehlt ihr nur noch die Master-Arbeit. Geplanter Titel: „Mentale Stärke beim Segeln.“

Im WM-Ziel kann Luise kaum aufhören, vor Glück zu schreien

Im WM-Ziel kann Steuerfrau Luise kaum aufhören, vor Glück zu schreien. In den Armen ihrer Schwester Helena, die überraschend zur WM anreist und der sie großen Anteil am olympischen Qualifikationserfolg einräumt, rasen Luise viele Bilder durch den Kopf. Auch solche aus der frühen Kindheit, in der sich ihre Familie in den drei Monate dauernden französischen Sommerferien im Sommerhaus am Steinhuder Meer vom hektischen Pariser Treiben erholte.

„Wir hatten da einen kleinen Opti liegen. Mein Papa ist immer mit mir aufs Wasser gegangen, und es gab Chips. Es war herrlich!“ Zum NRV kam Luise als Zehnjährige über einen Klassenkameraden. Vom Anfängerkurs bis zur Top-Regattaförderung durchlief sie dort alle Stufen des Fördersystems. „Sie ist ein echtes Eigengewächs“, sagt Klaus Lahme nicht ohne Stolz.

Winkel hat seit März die deutsche Staatsbürgerschaft

Am 1. April werden Luise Wanser und Anastasiya Winkel in den Perspektivkader des German Sailing Teams aufgenommen. Winkel hat inzwischen auch die letzte hohe Hürde auf Kurs Japan genommen und am 18. März 2021 mit der Einbürgerungsurkunde die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Ihrem Olympia-Start unter schwarz-rot-goldener Flagge steht nichts mehr im Weg.

Eine letzte Unwägbarkeit bleibt für alle aufgrund der Pandemie. Luise Wanser, deren nach dem Abitur an der Sophie-Barat-Schule begonnenes Jura-Studium weiter warten muss, sagt: „Mich begleitet das Bild von mir mit einer Olympiamedaille um den Hals seit meiner Anfangszeit im Opti auf der Alster. Das Bild wird schärfer, je näher wir den Spielen kommen. Ich hoffe, dass mein Herz nicht gebrochen wird. Ich bete jeden Tag dafür, dass die Olympischen Spiele stattfinden.“