Hamburg. Damit sie für Olympia trainieren und trotzdem in Hamburg mit Jugendlichen arbeiten kann, geht der deutsche Verband einen Sonderweg.

„Selbstliebe“ steht in englischer Sprache, mit Tinte unter die Haut gestochen, auf ihren Beinen, „self“ rechts, „love“ links. Warum diese Geschichte mitnichten von der Egomanie erzählt, die unsere Gesellschaft vergiftet, aber sehr wohl von viel Liebe und Hingabe, das wird im Gespräch mit Joelle Seydou schnell deutlich. Ebenso, wie schnell Träume zu zerplatzen drohen, und warum es wichtig ist, nach Lösungen zu suchen und nicht aufzugeben, bevor nicht jeder Weg zum Ziel verschüttet ist.

Joelle Seydou, vor 25 Jahren geboren in Hamburg, Vater aus Ghana, Mutter Deutsche aus Berlin, träumt einen Traum, den sie mit vielen Sporttreibenden teilt. Die Boxerin möchte für Deutschland bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris starten, wenn dort ihre Gewichtsklasse bis 64 Kilogramm erstmals ins Programm aufgenommen wird.

Joelle Seydou galt als „Problemkind“

Seit sie 2015 in der Altersklasse U 21 nationale Meisterehren einheimste, glaubt auch der Deutsche Boxsport-Verband (DBV) an ihre Fähigkeiten. Dennoch beschloss sie im vergangenen Jahr, ihren Traum aufzugeben. Weil es in ihrem Leben einen Beruf gibt, der ihr genauso viel bedeutet wie der Sport, und weil sie keine Möglichkeit sah, ihre beiden Lieben zu vereinen.

Man muss ihren Lebensweg kennen, um das zu verstehen. Joelle Seydou wuchs auf der Veddel auf, bis sie sechs Jahre alt war. Sie hat vier jüngere Geschwister, Geld und Wohnraum waren knapp, also zog sie zu ihren Großeltern nach Winterhude. „Das war die erste Weichenstellung. Wäre ich in Veddel geblieben, hätte alles anders ausgehen können“, sagt sie.

Unter Obhut der Großeltern schaffte sie am Gymnasium Eppendorf ihr Abitur, blieb aber trotzdem das, was bisweilen abfällig als „Problemkind“ bezeichnet wird. „Ich habe mich zwar nicht ständig auf der Straße rumgeprügelt, aber ich war wild, habe viel und ungesund gegessen, exzessiv Alkohol getrunken und gekifft“, sagt sie.

Wendepunkt in ihrem Leben

Der Wendepunkt in ihrem Leben kam, als sie mit 17 von einem Kumpel zu Frank Rieth mitgenommen wurde. Der 58-Jährige leitet in Winterhude die Sportschule Agon und erinnert sich daran, wie Joelle zum ersten Training bei ihm auftauchte. „Sie war damals ein Superschwergewicht“, sagt er, „aber sie hatte alle Anlagen, die es braucht, um im Boxen erfolgreich zu sein.“

Joelle Seydou, die früher auch Basketball und Fußball spielte, beschreibt das, was der Faustkampf mit ihr machte, so: „Auf einmal ergab es für mich keinen Sinn mehr, mich jedes Wochenende abzuschießen. Ich hatte plötzlich eine Struktur im Leben und wusste, was ich wollte.“

Nach dem Abitur studierte sie soziale Arbeit und begann vor eineinhalb Jahren, für das Hamburger Projekt „Boxschool“ zu arbeiten, das über die Betreuung Jugendlicher an Schulen in sozialen Brennpunkten einen Beitrag zur Gewaltprävention leistet.

Ihr fehlte die Arbeit mit ihren Hamburger Kids

Menschen wie Joelle, die angesichts ihrer eigenen Erfahrungen als Vorbild für die Schülerinnen und Schüler gelten, sind als Gruppenleiter sehr gefragt. „Joelle hat eine extrem hohe empathische Kompetenz“, sagt „Boxschool“-Gründer Olaf Jessen (, der am S-Bahnhof Langenfelde das „Hankook“-Gym betreibt.

Das Problem, mit dem sich die Kämpferin nun konfrontiert sah, zermürbte sie. Am Bundesstützpunkt Schwerin, wo sie trainierte, hatte man ihr zwar eine Stelle in der Betreuung der dort ansässigen Internatsschüler vermittelt.

Aber ihr fehlte die Arbeit mit ihren Hamburger Kids, „und weil ich fürchtete, dass ich wegen der vielen Lehrgänge an wechselnden Orten, die vor Olympia vorgeschrieben sind, meinen Beruf nicht verfolgen könnte, habe ich mich zum Rücktritt aus dem Nationalkader entschieden.“ Sie schrieb Michael Müller einen zwei Seiten langen Brief, um ihre Entscheidung zu erläutern. Der DBV-Sportdirektor reagierte – aber in einer Form, die niemand erwartet hatte.

Novum für den DBV

„Ich habe ihr geantwortet, dass ich sie nicht gehen lasse und wir eine Lösung finden werden“, sagt Müller. Diese Lösung sieht nun vor, dass Joelle Seydou nur zur unmittelbaren Wettkampfvorbereitung mit dem Nationalkader trainieren muss. Ihr Athletik- und Techniktraining darf sie bei Frank Rieth in Hamburg absolvieren.

Zum 1. April will Olaf Jessen sie für mindestens 30 Wochenstunden als Leiterin des Ganztagsprogramms an der Frieda-Stoppenbrink-Schule in Neuwiedenthal anstellen. Das Konzept befindet sich aktuell im Feintuning und soll dann der Stadt vorgestellt werden, die für die Zeit der sportbedingten Abwesenheit eine Ersatzlösung für die Betreuung der Kinder finanzieren soll – und ihre Bereitschaft dazu bereits signalisiert hat. „Für mich ist diese Lösung das Optimum“, sagt Joelle Seydou.

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Ein solches Modell ist ein Novum für den DBV – und es könnte Schule machen im Bemühen, individuelle Lösungen für Topathleten zu finden, die an der Vereinbarkeit von Sport und Beruf zu scheitern drohen. Möglich ist es nur, weil alle Partner Joelle Seydou tiefes Vertrauen schenken. „Sie bringt den Willen und die Selbstständigkeit mit, das zu schaffen“, sagt Frank Rieth.

„Sie ist sehr reif und stabil, im Ring eine Maschine, und sie denkt vor allem auch an andere“, sagt Bundestrainer Michael Timm, ihr Trainer in Schwerin. „Es ist ein eigener Weg, den wir nur gehen, weil sie eine Persönlichkeit hat und Werte lebt, die es im Leistungssport selten gibt. Bei ihr bin ich sicher, dass die Gegenleistung stimmen wird“, sagt Michael Müller. Joelle Seydou ist glücklich und dankbar für die Unterstützung, die sie erfährt, gleichzeitig weiß sie um die Verantwortung, die sie trägt. An dieser Last zu schwer zu tragen zu haben, fürchtet sie nicht.

„Ich darf jetzt die beiden Dinge tun, die ich am meisten liebe. Was will ich mehr?“, sagt sie. Außerdem gibt es ja noch ein Tattoo, das ihr Kraft gibt. Die Hammaburg schmückt ihre linke Führhand. Was soll da noch schiefgehen?