Hamburg. Als Architektin gestaltet Sylvia Pille-Steppat Stadtquartiere und Neubauten – im Sommer will sie zu den Paralympischen Spielen.

Seit März geht das nun schon so: Der Personenaufzug am Hauptbahnhof ist ausgebaut, weg. Einfach so. Umsteigen oder Aussteigen für Rollstuhlfahrer unmöglich. Also muss Sylvia Pille-Steppat auf ihrem Weg von ihrem Zuhause in Harburg zur Arbeitsstelle am Alsterdorfer Markt bis Dammtor fahren und dann am Stephansplatz in die U-Bahn wechseln. Ein erheblicher Umweg und zeitlicher Mehraufwand. „Das ärgert mich als Rollstuhlfahrerin wirklich“, sagt die Architektin, „dass man am Hauptbahnhof nicht von der S- in die U-Bahn umsteigen kann.“

Das ist genau so ein Beispiel, täglich erlebt. Die Behinderungen im Alltag von Menschen mit körperlichen Einschränkungen sind viel zu oft auch hervorgerufen durch Gedankenlosigkeit, Desinteresse, bauliche Fehler, durch eigentlich leicht zu behebende Missstände. Oder durch eine von vorneherein nicht inklusive Planung. Genau das wäre aber der Job von Architektinnen und Architekten. „Natürlich bringe ich auch meine persönlichen Erfahrungen da ein“, sagt die 53-Jährige, die seit sieben Jahren einen Rollstuhl benutzt.

Sie will die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung in Hamburg verbessern

Im „Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg“ arbeitet sie seit dessen Gründung am 1. Januar 2019 daran, die Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderung in Hamburg zu verbessern. Sie berät Behörden, Stadtplanerinnen, Bauherren und Hamburger Einrichtungen dabei, die besonderen Anforderungen von Seh- oder Hörbehinderten ebenso mitzudenken wie die von Rollifahrerinnen oder Nutzern von Rollatoren. „Es gibt reichlich zu tun“, sagt sie, „wir sind gut ausgelastet.“

Ausgelastet – das passt. Als Leistungssportlerin bereitet sich Sylvia Pille-Steppat aktuell auf die Paralympischen Spiele in Tokio vor. Die Hamburgerin ist Deutschlands beste Pararuderin und im Einer bereits für die Spiele qualifiziert.

Sportlicher Lebenstraum

Ein sportlicher Lebenstraum kann da wahr werden, nachdem sie die Teilnahme in Rio de Janeiro 2016 noch denkbar knapp und unter etwas dubiosen Umständen verpasst hatte. Die pandemiebedingte Absage der Spiele im vergangenen Sommer war deshalb auch kurzfristig ein Schock, aber die Entscheidung weiterzumachen fiel relativ schnell. „Ich rechne fest damit, dass die Spiele stattfinden“, sagt sie, „das IOC, das Internationale Paralympische Komitee und Japan haben das auch gerade nochmals bestätigt.“

Also heißt es, Sport und Beruf unter einen Hut zu bringen. Ihre Urlaubstage verbringt sie deshalb nicht in der Sonne auf Mallorca, sondern schindet sich in der Ruderakademie Ratzeburg. „Ich habe hier eine halbe Stelle und kann die Tage auch sehr flexibel nutzen“, erzählt die aktuelle EM-Dritte. Auch Homeoffice mit dem Laptop aus einem Trainingslager hat es schon gegeben. „Die Kollegen unterstützen mich auch sehr gut. Sie wussten ja auch, wen sie da bekommen.“

Mit ihrem Team hilft Pille-Steppat beim Sportanlagenbau

Halt nicht „nur“ eine Leistungssportlerin, sondern eine diplomierte Architektin, die sich als Mitglied im Arbeitskreis inklusives Planen und Bauen bei der Hamburger Architektenkammer schon seit einigen Jahren mit diesem Thema befasst hatte. Professor Bernd Kritzmann von der HafenCity Universität hatte sie auf die neu geschaffene Stelle aufmerksam gemacht. „Vor meiner MS-Erkrankung habe ich wie die meisten Menschen auch nicht besonders an die Bedürfnisse von behinderten Menschen gedacht“, räumt Sylvia Pille-Steppat freimütig ein, „wir wollen hier jedoch ein Bewusstsein schaffen auch bei Leuten, die nicht betroffen sind.“

Ein Bürgerschaftsbeschluss vom 20. Dezember 2017 ebnete den Weg für das Kompetenzzentrum. Drei Trägerverein (Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen e. V., der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg e. V., Barrierefrei Leben e. V.) bilden das organisatorische Gerüst, finanziert wird das Zentrum allerdings komplett von der Sozialbehörde. Hamburg soll eine inklusive Stadt werden, das ist das Ziel von Senat und Bürgerschaft.

Empfehlungskatalog für das inklusiv geplante Holsten Quartier

„Wir beraten ganzheitlich zur Umsetzung gesetzlich vorgeschriebener Barrierefreiheit. Wir empfehlen Lösungen, weisen auf Probleme hin und zeigen Handlungsbedarf auf“, beschreibt das Kompetenzzentrum seine Aufgaben.

Der Fachbereich von Sylvia Pille-Steppat ist dabei die Quartiersentwicklung. Sie berät die Planerinnen und Planer des Sportplatzes im Oberhafenquartier, den Norddeutschen Regattaverein beim Ausbau der Bootsstege, auch das Ausstellungskonzept der Gedenkstätte am Hannoverschen Bahnhof wurde mitgedacht.

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Gerade hat sie gemeinsam mit dem zuständigen Projektteam beim Bezirksamt Altona einen Empfehlungskatalog für das inklusiv geplante Holsten Quartier auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei abgegeben. „Gewisse Anforderungen können dann in die städtebauliche Ausschreibung aufgenommen werden, an die sich die Bauherren und Investoren dann halten müssen“, erklärt sie. Verpflichtend ist so ein inklusiver Katalog für Neubauvorhaben in Hamburg allerdings noch nicht. „Der Bezirk Altona ist da schon sehr voraus, das würde ich mir auch anderswo wünschen.“

Für Sylvia Pille-Steppat gibt es in ihrem Job noch viel zu tun

Wenn andererseits ein Denkmalschutzamt in der City Nord auf den Erhalt von rollstuhlfeindlichem Kopfsteinpflaster besteht, wenn Baustellen nicht so gesichert sind, dass Blinde sie gefahrlos betreten können, wenn es erlaubt ist, dass E-Scooter mitten auf Gehwegen abgestellt werden, wenn Bauämter bei der Abnahme von Neubauten die behindertengerechten Vorschriften nicht überprüfen, oder eben wenn Aufzüge an Bahnhöfen monatelang nicht funktionieren, dann weiß Sylvia Pille-Steppat, dass in ihrem Job noch viel zu tun ist.

Aber so etwas stachelt eine Leistungssportlerin eher an – die ist schließlich gewohnt, hohe Ziele zu erreichen.