Hamburg. Eine Sportpsychologin am Hamburger Olympiastützpunkt spricht über die Notwendigkeit ihrer Arbeit in der Corona-Krise.

Ihr Name fällt in fast jedem Gespräch, das man aktuell mit Hamburger Olympiakaderathleten führt. Anett Szigeti ist für viele der Sportlerinnen und Sportler in der Corona-Krise, die die Austragung der Olympischen Sommerspiele in Japans Hauptstadt Tokio (24. Juli bis 9. August) bedroht, ein Anker. Die freiberuflich tätige Sportpsychologin, die über eine Kooperationsvereinbarung für den Olympiastützpunkt in Dulsberg arbeitet, macht den Athleten Mut, hört ihnen zu und bietet Lösungsansätze an. Im Abendblatt-Gespräch erläutert die 39-Jährige ihre Arbeitsweise, ihren Blick auf die Krise – und was sie für die Zeit nach Corona hofft.

Hamburger Abendblatt: Frau Szigeti, gibt es eine Frage, die Sie aktuell in jedem Gespräch mit Sportlern gestellt bekommen?

Anett Szigeti: In abgewandelter Form ist es die Frage, auf was man in dieser Zeit besonders achten soll und was man jetzt tun kann, um diese Zeit so gut wie möglich zu nutzen.

Das klingt sehr pragmatisch. Gibt es darauf eine allgemeine Antwort?

Szigeti: Nein, jede Antwort ist so individuell wie die Person, auf die sie sich bezieht. Ich muss vor allem herausfinden, inwieweit meine Klienten aktuell mental in der
Lage sind, sich auf Inhalte einzulassen.

Aus Gesprächen mit Sportlerinnen und Sportlern gewinnt man eine Gewissheit: Kaum einer hat Angst, sich mit Corona zu infizieren, aber Sorge vor den Auswirkungen, die diese Pandemie auf den Sport und die Gesellschaft hat. Überrascht Sie das?

Szigeti: Nein. Tatsächlich habe ich auch noch keinen einzigen Athleten gesprochen, der Angst vor einer Ansteckung hat. Die Ungewissheit ist es, die sie quält. Sportler sind es gewohnt, dass die Ergebnisse ihrer Bemühungen messbar sind. Die Klarheit, die sie aus dem Sport kennen, fehlt jetzt. Der fehlende Trainingsalltag bringt ihren Rhythmus durcheinander und verursacht Verunsicherung.

Ungewissheit kennen viele aber doch zum Beispiel, wenn sie verletzt sind und nicht wissen, wann oder ob sie überhaupt wieder zu voller Leistungsstärke zurückfinden. Ist das vergleichbar mit der aktuellen Lage?

Szigeti: Manches kommt dem zwar sehr nah, aber dass es eine so globale Krise ist, die viele in ihrer beruflichen Existenz zu bedrohen scheint, ist eine neue Situation, mit der noch niemand konfrontiert war. Insofern stellen sich nun Fragen, die noch nie da waren.

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    Wie reagieren Ihre Klienten auf diese für uns alle neue Situation?

    Szigeti: Jeder Mensch reagiert auf eine solche Situation unterschiedlich. Manche finden sich schneller damit ab und sehen sie als hilfreiche Auszeit. Die wollen die Zeit jetzt nutzen, um zum Beispiel im mentalen Bereich mehr zu arbeiten, als es im normalen Trainingsbetrieb möglich wäre. Anderen fällt es schwerer, Optimismus zu entwickeln. Die sind noch in einer Art Schockstarre, befassen sich nicht hilfreich mit der ungewissen Zukunft und brauchen mehr Zeit, um die Herausforderungen anzunehmen.

    Die Angst vor der ungewissen Zukunft ist allgegenwärtig. Wie gehen Sie damit um? Versuchen Sie, Angst zu nehmen, oder Ihren Klienten den Umgang damit zu erleichtern?

    Szigeti: Es geht jetzt darum, Emotionen zuzulassen und ehrlich zu sagen, was in einem vorgeht. Ich mache meine Arbeit nie so, dass ich so täte, als wären Angst oder andere Emotionen nicht vorhanden, sondern orientiere mich an dem, was in jedem Individuum vorgeht. Deshalb lasse ich meine Klienten zunächst beschreiben, wie es ihnen geht, was sie fühlen. Dann geht es darum, diese Gefühle zuzulassen. Erst danach kann man an Lösungswegen arbeiten.

    Das heißt, Sie versuchen nicht, die Sportlerinnen und Sportler vor allem darin zu bestärken, die Motivation für die Olympiavorbereitung aufrechtzuerhalten, obwohl das gerade von den Athleten verlangt wird.

    Szigeti: Nein, ich arbeite mit dem, wovon die Athleten ausgehen. Aus jedem Gespräch komme ich mit einem neuen Blickwinkel auf Olympia heraus. Manche glauben, dass es abgesagt wird. Manche, dass es verlegt wird, andere wiederum, dass es auf jeden Fall durchgezogen wird. Wir alle wissen es nicht. Was ich auf keinen Fall mache: Meine eigene Meinung ins Gespräch einbringen. Ich habe alle Szenarien grob in meinem Kopf, aber wir müssen flexibel sein und uns mit dem Status quo auseinandersetzen, wie er sich für jeden Einzelnen darstellt. Wenn Olympia abgesagt wird, braucht es eine ganz andere Art der Begleitung als die aktuelle. Aber das gilt es abzuwarten.

    Was tun Sie konkret, um Ihre Klienten in dieser Krise zu stützen? Sind jetzt Entspannungsübungen wichtig, um auf andere Gedanken zu kommen? Oder Visualisierungen, um konkret an Inhalten zu arbeiten?

    Szigeti: Auch das ist individuell verschieden. Eine Übung, die ich von jedem abfrage, ist aber die Tagesstruktur. Sportler brauchen diese ganz besonders, vor allem, wenn sie so normal wie möglich weiterarbeiten wollen. Es ist völlig okay, in einer solch beispiellosen Krise mal ein paar Tage durchzuatmen und auch Frustbewältigung zu betreiben. Aber danach braucht jeder Athlet Ziele und Aufgaben, damit das Leben weiterhin Sinn und Qualität hat. Und diese Ziele erreicht man nur mit einer Tagesstruktur.

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    Die sich gravierend verändert, wenn man nur individuell trainiert, während man im Alltag meist eine Gruppe Gleichgesinnter um sich herum hat. Was verändert das?

    Szigeti: Vieles. Deshalb rate ich auch dringend dazu, sich so oft wie möglich mit anderen auszutauschen, wie es auch im täglichen Trainingsalltag wäre. Ich halte Videokonferenzen für ein sehr wichtiges Mittel. Das Visuelle ist ein Faktor, der das Wohlgefühl enorm beeinflusst. Zu hören und zu sehen, wie andere mit der Situation umgehen, hilft sehr.

    Auch für Sie hat sich die Arbeit sicherlich verändert. Direkter persönlicher Kontakt, der Gespräche intensiver macht, ist aktuell nicht möglich. Wie gehen Sie damit um?

    Szigeti: Tatsächlich trifft mich das nicht so stark, weil die Athleten und ich oft unterwegs und es deshalb gewohnt sind, über das Internet per Skype oder anderen Plattformen visuell mit Menschen in Kontakt zu treten, auch wenn wir nicht im selben Raum sitzen. Zu den meisten meiner Klienten habe ich über die Zeit eine Beziehungsebene aufgebaut, die temporär erlaubt, Gespräche zu führen, ohne sich dabei gegenüberzusitzen. Das beeinträchtigt die Qualität nicht.

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    Hat denn die Nachfrage nach Terminen deutlich zugenommen?

    Szigeti: Der Bedarf ist geschätzt um 20 Prozent gestiegen. Vor allem dadurch, dass jetzt auch Athleten anfragen, die ich seit Monaten nicht gesprochen habe. Was sich aber vor allem verändert hat, ist die Compliance. Es wird kein Termin mehr vergessen, die Wichtigkeit der sportpsychologischen Arbeit scheint deutlich zugenommen zu haben.

    Das hat sich aber noch nicht in allen Sportarten herumgesprochen, vor allem der Profifußball verzichtet auf regelmäßige Begleitung durch Sportpsychologen. Was halten Sie insbesondere in Zeiten wie diesen davon?

    Szigeti: Grundsätzlich glaube ich, dass es gut ist, Sportpsychologen zu haben, nicht nur in Krisenzeiten. Aber gerade jetzt finde ich Einzelgespräche unerlässlich.

    Was glauben Sie persönlich, was aus dieser weltweiten Krise folgen wird, im Sport und gesellschaftlich?

    Szigeti: Darauf kann ich noch keine Antwort geben. Diese Fragen sind spannend, und wem es hilft, darüber zu philosophieren, der soll das tun. Aber nur, wenn es nicht dem Vorhaben schadet, sich auf die aktuelle Situation zu konzentrieren. Wir werden die ganze Wahrheit, wie es zu dem Ausbruch kommen konnte und was alles daran hängt, nie erfahren. Aber wir werden, wenn es vorbei ist, erarbeiten müssen, was daraus für jeden Einzelnen folgen kann. Ich glaube, dass die meisten Sportler ihre Karrieren nicht beenden, denn es ist ihr Job und ihr Leben. Ich hoffe, dass die Gesellschaft daraus lernt, wie wichtig Rücksichtnahme und Zusammenstehen sind. Und ich wünsche mir, dass Arbeit aus dem Homeoffice endlich mehr anerkannt wird. Das ist ein Punkt, der mir persönlich wichtig ist.