Hamburg. Geht die wundersame Geschichte von “Hafen-Basti“ weiter? Der WM-Sieg hat Sebastian Formella verändert. Eine Eigenschaft bleibt.

Als Sebastian Formella hört, dass es keine Parkmöglichkeiten geben wird an der edel-optics.de Arena in Wilhelmsburg, kommt ihm eine Idee. „Meinst du“, fragt er seinen Berater Steffen Soltau, „dass ich mir dann ein Taxi nehmen und das abrechnen könnte?“ Die Alternative, die ihm einfällt, wäre, von seiner Wohnung in Neugraben mit der S-Bahn anzureisen, so wie er es schon oft getan hat, wenn er in seiner Heimat Hamburg in den Ring steigt.

Wer nach einer Erklärung dafür sucht, warum der 32-Jährige vom Hamburger Profistall EC Boxing in der Gunst der Fans dermaßen erfolgreich abschneidet, findet sie in dieser Anekdote. Sebastian Formella ist, seit er im Juli vergangenen Jahres den Südafrikaner Thulani Mbenge (28) besiegte, Weltmeister im Weltergewicht (Klasse bis 66,678 Kilo) und am Sonnabend (22.30 Uhr/MDR) im Duell mit Roberto Arriaza (29) aus Nicaragua der Hauptkämpfer des Wilhelmsburger Kampfabends.

Sebastian Formella: WM-Kampf ausverkauft

Zwar trägt er nur den Titel der hinter den vier bedeutenden Weltverbänden rangierenden International Boxing Organisation (IBO). Aber er hat sich einen Status erarbeitet, mit dem er darauf pochen könnte, von einem Fahrdienst abgeholt zu werden, so wie es in Tagen, in denen das Profiboxen in Deutschland auf Weltspitzenniveau florierte, schon für die Kämpfer des Vorprogramms selbstverständlich war.

Nun hat Deutschland aktuell keinen Weltmeister mehr im Bereich der vier Topverbände. Formella ist mit Dominic Bösel (30), Halbschwergewichtler vom Magdeburger SES-Team, einer von zwei deutschen IBO-Champions. Aber sich auf diesen Erfolg etwas einzubilden, das käme dem Sohn polnischer Eltern niemals in den Sinn.

Die Gunst seiner Fans, die als die lautstärksten in Deutschland gelten und an diesem Sonnabend die mit 3000 Zuschauern ausverkaufte Arena zu mindestens einem Drittel füllen werden, hat er sich dank seiner Bodenständigkeit erarbeitet. Formella verkauft und übergibt Eintrittskarten noch persönlich, er nimmt sich Zeit für Gespräche mit seinen Anhängern.

Zwei Stunden Fotos mit Fans

Nach dem Sieg über Mbenge stand er auf der After-Show-Party zwei Stunden für Fotos zur Verfügung, obwohl der Körper nach Ruhe schrie. Und für die erhoffte Siegesfeier nach dem Duell mit Arriaza, der als sehr aggressiver, schlagstarker Vorwärtsboxer gilt, hat er eine Harburger Disco gemietet, in die er seine Unterstützer einlädt.

„Für mich ist es wichtig, dass ich etwas von dem zurückgebe, was mir meine Fans an Unterstützung schenken. Die nehmen sich viel Zeit und zahlen viel Geld, um mich boxen zu sehen. Das möchte ich anerkennen, indem ich mich um sie kümmere“, sagt er. So viel Volksnähe kommt an – und sie kommt bei Formella nicht von ungefähr. Der ehemalige Kunstturner, der während seiner Amateurkarriere für den TV Fischbek Siege gern mit einem Salto im Ring feierte, hat nie vergessen, dass er aus einfachen Verhältnissen kommt.

Der Job als Containerfahrer geht weiter

Und dann ist da noch sein Job als Containerfahrer im Hamburger Hafen, der ihn erdet, und von dem er weiterhin nicht lassen will. Zum einen, weil er ein sicheres Einkommen garantiert, sollte die Leistungssportkarriere mal abrupt enden.

Zum anderen aber auch, weil er sinnvollen Lebensinhalt braucht. Stillsitzen ist nicht Formellas Stärke. „Ich bin sehr hibbelig und langweile mich schnell, wenn ich nichts zu tun habe“, sagt er. Zur Entspannung spielt er zwar gern Brettspiele, aktuell ist Scrabble sein Favorit. Aber einfach mal die Beine hochlegen und nichts tun, wie es die Erkenntnisse auf dem wichtigen Feld der Regeneration empfehlen, das ist nichts für ihn.

Er habe sich kürzlich ein Entspannungsprogramm aufs Handy geladen, das er täglich höre, sagt Formella und zückt das Mobiltelefon. „Strong mind, strong life“ heißt das Programm – und klingt so Drill-Instructor-mäßig, dass man sich zur Entspannung auch neben einen laufenden Presslufthammer setzen könnte.

Wie der WM-Titel Formella veränderte

„Basti braucht dieses Leben im vollen Tempo. Aber die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Sport betreibt, hat sich in den vergangenen Monaten schon verändert“, sagt Berater Soltau. Wenn man Formella selbst fragt, was sich verändert hat, seit er sich Weltmeister nennen darf, sagt er: „Der Druck ist höher geworden. Es fühlt sich schon anders an, nicht mehr der Jäger zu sein, sondern der Gejagte. Ich habe jetzt etwas zu verlieren.“

Seinen draufgängerischen Stil zu ändern, dieses Boxen aus der Bewegung im ständigen Vorwärtsgang und mit vielen Schlagserien – viele Hände, schnelles Ende lautet sein Motto –, das ist dennoch kein Thema. „So bin ich Weltmeister geworden, so werde ich weiterboxen“, sagt er.

Die Sparringspartner werden besser

Trainer Mark Haupt sieht das ähnlich. „Wir trainieren genauso wie sonst auch. Mit dem Unterschied, dass die Sparringspartner besser werden und wir dadurch auch an Niveau gewinnen. Basti ist auf alles vorbereitet und wird sich seinen Titel nicht wegnehmen lassen.“ Das wäre auch fatal, schließlich ist der IBO-Titel durchaus eine Art Eintrittskarte in die Welt der „richtigen“ Champions, der Topathleten wie Terence Crawford (32/USA), der WBO-Weltmeister ist; wie Errol Spence Jr. (30/USA), der die Titel von WBC und IBF hält; oder wie der philippinischen Legende Manny Pacquiao (41), Champion der WBA.

Sebastian Formella, der all seine 21 Profikämpfe gewinnen konnte, ist ehrlich genug einzugestehen, „dass meine Chancen gegen solche Leute nicht gut wären. Ich zähle zur zweiten Garde, das weiß ich“, sagt er. Dennoch würde er alles dafür tun, um einmal in den USA die Chance zu bekommen, sich gegen einen dieser Spitzenathleten zu beweisen.

Könnte er mit Manny Pacquaio über die Runden gehen?

„Wenn ich mit einem wie Pacquiao über die Runden kommen würde, wäre das für mich ein Sieg“, sagt er. Ihm geht es vor allem darum auszuloten, wo seine Grenzen sind. „Bislang habe ich im Ring noch nie Prügel bekommen. Ich war noch nicht an der Grenze meiner Leistungsfähigkeit und habe einfach Bock auszutesten, wie weit ich kommen kann“, sagt er.

Für eine solche Chance würde er wohl im Hafen auch ein unbezahltes Urlaubsjahr erbitten. Die Doppelbelastung zehrt an ihm. Um die Vorbereitung auf den anstehenden Kampf durchziehen zu können, arbeitete er sogar über Weihnachten, um Überstunden aufzubauen, und musste dennoch eine Woche unbezahlten Urlaub machen.

Auch nach dem WM-Kampf reicht es nur für einen freien Montag. Darüber zu klagen, fällt Sebastian Formella dennoch nicht ein. „Ich kenne es nicht anders und bin auf diesem Weg zu dem geworden, der ich heute bin“, sagt er. Dass der Weg optimal für ihn war bislang, will er am Sonnabendabend erneut unter Beweis stellen. Und bestimmt findet sich auch noch jemand, der ihn zur Wilhelmsburger Halle fährt.