Hamburg. Erich Teller kann seinen rechten Arm kaum nutzen. Dennoch ist er Kickboxer und verteidigt in Hamburg seinen deutschen Meistertitel.

Maximal 30 Sekunden, sagt sein Trainer. Länger dauert es nicht, bis die Gegner Erich Teller mit aller Macht ausknocken wollen. Weil sie spätestens dann gemerkt haben, dass ihnen im Ring ein Mann gegenübersteht, der in der Lage ist, jeden zu besiegen. Und eben nicht die leichte Beute, für die man einen Gehandicapten, der seinen rechten Arm nicht benutzen kann, halten könnte. „Wer mich im Kampf nicht ernst nimmt, ist selbst schuld. Ich erwarte weder Mitleid noch Rücksicht, weil ich im Ring beides auch für meine Gegner nicht habe“, sagt Erich Teller.

Man kennt solche Sätze aus dem Kampfsport, aber weil Erich Teller eine Ausnahmeerscheinung ist, haben diese Worte aus seinem Mund eine andere Wucht. Der 21-Jährige ist der einzige Kickboxer in Deutschland, der trotz einer Körperbehinderung auf Leistungssportniveau kämpft. An diesem Sonnabend (18 Uhr, Sporthalle Wandsbek) verteidigt der Mittelgewichtler (Klasse bis 76,2 kg) aus Kiel auf der Kampfsportgala „Kickmas“ seinen deutschen Meistertitel nach K1-Regeln gegen Lennert Kleinemeyer vom Tough Gym Altona.

Schwere Geburtskomplikationen

Bei seiner Geburt hätten seine Eltern niemals geglaubt, ihr jüngstes von acht Kindern – Teller hat vier Brüder und drei Schwestern – überhaupt einmal Sport treiben zu sehen. Wegen schwerer Geburtskomplikationen musste er im Kreißsaal wiederbelebt werden, 20 Minuten war sein Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt. Angesichts dieser Geschichte ist die Schädigung des Plexus brachialis, eines Nervengeflechts, das für die Bewegung des rechten Arms unabdingbar ist, als Glück im Unglück zu bezeichnen. „Ich hätte schwerstbehindert oder tot sein können“, sagt er.

Seinen rechten Arm spürte Erich Teller in seiner Kindheit gar nicht, er war wie ein nutzloser Fremdkörper. Als Kind machte er alles mit der Linken, wurde häufig operiert, um die Funktion des Plexus brachialis zurückzuerlangen. Doch Besserung stellte sich erst ein, seit er als 13-Jähriger mit dem Kampfsport begann. Warum sich ein Teenager mit Armlähmung dazu entschließt, einen gefährlichen Sport zu betreiben, bei dem der Einsatz der Arme eine wichtige Rolle spielt? „Mein elf Jahre älterer Bruder Bernhard hat mich mitgenommen, weil ich bei 1,60 Meter Größe 92 Kilo wog und er meinte, dass ich mit Kickboxen abnehmen würde. An Wettkämpfe habe ich damals gar nicht gedacht. Nach dem ersten Training sagte ich nur zu meiner Mutter: Wenn ich das ein zweites Mal durchhalte, bin ich schon gut“, sagt er.

Brutaler linker Haken

Christian Nelte steht in der Kampfsportschule „Fit & Fight“ am Dreiecksplatz in der Kieler Innenstadt, die er als selbstständiger Coach führt, am Ring und beobachtet, wie sein Schützling seinen Sparringspartner malträtiert. „Als Erich zu uns kam, wussten wir alle nicht so genau, wie das werden würde“, erinnert er sich. „Eigentlich wollte er boxen, aber das haben wir verworfen, weil er von zwei Waffen nur eine hätte nutzen können. Beim Kickboxen sind es immerhin drei von vier, beide Beine und ein Arm.“ Die Bedingung, die der Trainer stellte, erfüllte der Neue anstandslos. „Wir haben nie spezielles Training für ihn gemacht, er musste mithalten wie ein normaler Sportler. Und das hat er mit enorm viel Fleiß und Einsatz getan.“

Die Kicks, die Teller mit seinen massiven Unterschenkeln zu Kopf und Körper durchzieht, krachen hart in die Pratzen. Noch brutaler ist der linke Haken, den der 1,81 Meter große Athlet als seine wichtigste Waffe bezeichnet. Ab und an fliegt auch der rechte Arm in Richtung des Gegners. Dank einer speziellen Therapie hat Teller es geschafft, den Muskelaufbau im rechten Arm anzuregen und diesen auch fühlen zu können. Er kann ihn bis auf Brusthöhe anheben und ihn zwar nicht koordiniert als Gerade oder Haken schlagen, aber mithilfe einer Rumpfrotation so schleudern, dass er den Gegner beeinträchtigt.

Unorthodoxer Stil

„Ich glaube, dass meine große Stärke ist, dass ich so unorthodox kämpfe. Die Gegner können sich nur schwer darauf einstellen“, sagt er. Dass er den rechten Arm nicht als Deckung nutzen kann und deshalb auf der linken Körperseite offener für Treffer ist, sieht Erich Teller nicht mehr als Schwäche. „Ich habe meinen Stil gefunden, mit dem ich das kompensiere“, sagt er. Tatsächlich gibt es selbst auf Weltklasseniveau einige Kampfsportprofis, die die hängende Deckung als Stilmittel einsetzen.

Erich Teller nutzt den linken Arm wie einen Scheibenwischer, um Schläge zu blocken, bewegt sich sehr gut auf den Beinen und hat vor allem seine Meidbewegungen und sein Auge geschult, um Schläge oder Tritte auszupendeln. Wer ihn ein paar Runden im Training beobachtet, vergisst schnell, dass ihm die rechte Hand als Waffe fehlt.

Teller ist sozialpädagogischer Assistent im Kindergarten

Trainer Nelte vergisst das nie, und er weiß, dass sein Sportler an Grenzen stoßen wird, wenn er auf Gegner von Weltklasseformat trifft, die die Deckungs­lücke auszunutzen wissen. „Außerdem sind lange Kampfdistanzen für Erich härter, wenn der linke Arm übersäuert und er den rechten nicht als Ausgleich nutzen kann. Aber er hat jetzt 25 Kämpfe gemacht, nur zwei verloren und konnte immer mithalten.“ Medizinische Bedenken habe es nur einmal gegeben, als eine junge Ärztin sich nicht sicher war, ob die Gefahr nicht zu hoch sei. „Die meisten Mediziner sind begeistert, wenn sie sehen, wie Erich kämpft“, sagt der Coach.

Das gilt auch für das Publikum und die meisten seiner Kontrahenten. „Ich habe es im Sport nie erlebt, dass sich irgendjemand über mich lustig gemacht hat, so wie es in der Kindheit oft passierte. Ich erfahre überall großen Respekt“, sagt Erich Teller. Es komme zwar vor, dass Gegner nicht gegen ihn antreten wollten. „Aber das liegt daran, dass sie fürchten, mit meinem Stil nicht klarzukommen. Das respektiere ich.“ Nicht gegen einen Gehandicapten verlieren zu wollen sei dagegen kein Grund für eine Kampfabsage. „Wir wollen weder einen Sieg geschenkt noch einen Sonderstatus. Beides wäre respektlos.“

Keine Angst im Ring

Erich Teller hat keine Angst, wenn er in den Ring steigt. Er weiß, was passieren kann, aber sein Handicap als Ausrede für eine Niederlage anzuführen käme ihm nicht in den Sinn, weil er es selbst nicht als Handicap empfindet. Er stellt sich deshalb auch nicht als Vorbild in den Mittelpunkt; in dem Kieler Kindergarten, in dem er als sozialpädagogischer Assistent arbeitet, wissen viele nicht, dass er deutscher Kickboxmeister ist.

Menschen, die ebenfalls unter einer Einschränkung leiden und deshalb zweifeln, ob sie Leistungssport betreiben sollten, will er aber gern als Mutmacher dienen. „Es gibt eine gute Chance, dass ich irgendwann meinen rechten Arm normal nutzen kann. Das hätte ich dann dem Sport zu verdanken“, sagt er. Dem Sport – und vor allem seiner Einstellung, maximal 30 Sekunden lang Zweifel an sich und seiner Stärke zuzulassen.