Hamburg. Tim Gerresheim hat das Fechten in Hamburg geprägt wie kein Zweiter. Zu Unrecht ist der 80-Jährige etwas in Vergessenheit geraten.

„Franzi – Kreuzschritt nach hinten!“ Tim Gerresheim steht in der Mitte der Aikidohalle in einem ehemaligen Gewerbehinterhof in Ottensen. Ganz genau schaut er hin, was seine Schüler dort mit dem Degen veranstalten. Und wenn etwas hakt, dann greift er ein: „Nachsetzen, Ausfall!“

Im Februar wird er 81 Jahre alt. „Ich bin ein Methusalem“, sagte er, als ihn der Hamburger Fecht-Verband (HFV) im Frühjahr für sein „Lebenswerk“ auszeichnete, „ich bin sehr überrascht und erfreut über diese Anerkennung.“ Tatsächlich ist Gerresheim im Hamburger Sport zu Unrecht etwas in Vergessenheit geraten. Einladungen zu den großen Sport-Galas oder –Empfängen erhält er eher selten.

An diesem Sonnabend aber ist er dabei, wenn der HFV in der neuen Verbandshalle am Horner Weg mit einem Empfang und den Hamburger Meisterschaften sein 70-jähriges Bestehen feiert. „Viele sind wohl nicht mehr da, die ich noch kenne“, sagt der höchst lebendige Senior, „aber dass der Verband nun endlich eine eigene Halle hat, ist ja das Non-plusultra. Das freut mich.“

Gerresheim: „Olympia ist für Sportler das Höchste“

Gerresheim hat als Hamburger Florettfechter an den Olympischen Spielen 1960, 1964 und 1968 teilgenommen, war auch 1972 als Trainer von Erika Bethmann (ETV) in München dabei. 1960 gewann er mit der deutschen Mannschaft die Bronzemedaille, dazu neben zahlreichen Turniersiegen zwei deutsche Meisterschaften. Nicht viele Hamburger Spitzenathleten haben mehr erreicht. „Olympia ist für einen Sportler das Höchste“, sagt er und erinnert sich gerne an die Abschlussfeier in Mexikos Olympiastadion: „75.000 Menschen, ich hatte Gänsehaut.“

Vom Sportfechten hat sich Gerresheim inzwischen verabschiedet. Immerhin noch bis letztes Jahr gab er in „seinem“ Fecht-Club Rothenbaum Trainerstunden. Jetzt schaut er noch zweimal im Monat dort vorbei, um zu schnacken und Freunde zu treffen: „Aber sonst hält der Alte sich raus.“

Immer noch aber unterrichtet Tim Gerresheim Schauspielschüler im Bühnenfechten. Immerhin zwölf Stunden in der Woche ist er als Dozent für zwei Schauspielschulen tätig. „Das ist mir wichtig, das tut mir gut“, sagt er, „soll ich mich denn nur mit anderen Alten über Krankheiten unterhalten?“ Das will niemand, also gibt er sein Wissen und Können an angehende „Musketiere“, „Störtebekers“ oder „Hamlets“ weiter.

Als sein Fecht-Training einen Polizeieinsatz auslöste

Seit 1980 bringt Gerresheim jungen Schauspielern bei, wie man effektvoll die Waffe schwingt. Die „Grundgefechte A und B“ hat er dafür selbst entwickelt. Das sind genaue Choreografien, exakte Abfolgen von Angriff und Abwehr, nichts wird da dem Zufall überlassen, jede Bewegung ist einstudiert. Wenn es klappt, sieht es extrem realistisch aus. „Wir haben einmal bei schönem Wetter draußen im Stadtpark trainiert“, erinnert sich Gerresheim lächelnd, „da haben Passanten die Polizei gerufen, es würden Leute mit Waffen aufeinander losgehen.“

Diese „Performance“ war also offenbar gelungen. Heute entwickeln seine Schüler kleine Szenen mit Kampf und Sprache, die sie bei ihrer Prüfung zeigen müssen. „Fechten ist anstrengend“, weiß der Altmeister, „wenn man dazu aber noch mimen und so sprechen muss, dass es die Leute auch in der 35. Reihe verstehen, dann wird es richtig schwer.“ Gerresheim schaut also, guckt, greift ein, gibt Tipps. Und die jungen Leute in ihren Zwanzigern akzeptieren, was der ältere Herr sagt. Einfach, weil er eine natürliche Kompetenz ausstrahlt bei dem, was er da vermittelt.

Gut, bei der Vita muss das wohl so sein. Schon sein Vater Otto war Fechtmeister und die Mutter auch. 1951 siedelte die Familie aus Berlin nach Hamburg über, drei Jahre später gründete der Vater den Fecht-Club Rothenbaum: „Ich konnte aus meinem Schlafzimmer die weißen Männer beim Training sehen.“ Der Griff zur Waffe war folgerichtig, schon 1959 gewann der junge Mann aus der Fecht-Diaspora seinen ersten deutschen Meistertitel. „Ich war nie besonders kraftvoll“, erzählt er, „also musste ich mich auf die Technik konzentrieren.“

„Es war immer schwer mit dem Fechten in Hamburg“

Das ist die Basis, von der er heute bei seinem Unterricht immer noch zehrt. Hand, Auge, Konzentration, Aktion, Reaktion – läuft alles noch erstaunlich gut. Nach Olympia 1964 begann er in Köln sein Studium zum Diplom-Sportlehrer, nach Olympia 1968 begann er seine Trainerkarriere, baute mit seiner Frau eine Sportschule auf und unterrichtete in „seinem“ Fechtclub und als Hamburger Verbandstrainer.

„Es war immer schwer mit dem Fechten in Hamburg“, erinnert er sich, „ich habe nie Unterstützung erhalten.“ Die Fahrten zu Turnieren hat sein Vater bezahlt, Sporthilfe oder ein „Team Hamburg“ gab es noch nicht. Zu seiner aktiven Zeit fochten etwa 600 bis 700 Aktive in der Stadt, wie heute.

Dass der Hamburger Verband nun seine top ausgestattete Verbandshalle bekommt, kann ein Glücksfall werden. Beste Bedingungen sind wahrscheinlich die einzige Chance, um Talente in der Stadt zu halten. „Motivation kommt nur durch Erfolg“, weiß der lebenserfahrene Fechtmeister Gerresheim, „nur zu sagen, aus dir wird später mal was, ist Mist.“