Tallinn. Erdogangate 2.0: Nach Deutschlands 3:0 in Estland geht es um umstrittene Instagram-Postings im Hinblick auf den Syrien-Krieg.

Pünktlich zu Beginn der Geisterstunde um Mitternacht eilte Emre Can als erster Nationalspieler aus der Kabine der deutschen Mannschaft in den Katakomben von Tallinns A. Le Coq Arena. 3:0 hatte die DFB-Elf, die nach Cans frühem Platzverweis zu einer DFB-Zehn zusammengeschmolzen war, gerade gegen Estland gewonnen. Can, das wurde schnell klar, war nicht in der Stimmung nach großen Erklärungen. Als aber sein persönlicher Sonntag, der 13., vorbei war, besann sich der Juventus-Legionär dann doch eines Besseren.

Kurz kommentierte Can seinen Platzverweis, der in der Aufarbeitung dieses ereignisreichen Tages allerdings nur eine Nebenrolle spielen sollte. Hauptgesprächsthema nach dem Pflichtsieg waren weder Cans erste Rote Karte seiner Karriere noch Ilkay Gündogans sehenswerte Tore. Viel mehr waren es die Aktivitäten des Duos außerhalb des Platzes vor dem Spiel, die nach dem Spiel noch einmal aufgearbeitet werden mussten.

„Ich bin ein absoluter Pazifist und gegen jede Art von Krieg“, sagte Can, der – genau wie Gündogan – durch einen gelikten Instagram-Post von Kumpel Cenk Tosun vor der Partie unfreiwillig für Wirbel gesorgt hatte. Der türkische Nationalspieler hatte am Freitag in der Schlussminute beim 1:0 der Türkei gegen Albanien den Siegtreffer erzielt, diesen mit seinen Kollegen mit einem Salut vor der Ehrentribüne (und später noch einmal in der Kabine) gefeiert und davon ein Foto gepostet.

Die nächste DFB-Affäre um Erdogan

Tosuns Treffer im weit entfernten Istanbul war der Anfang einer rauschenden Fußballnacht in der Türkei – und einer hitzig geführten Kontroverse in ganz Fußball-Europa. Der Hintergrund: Der martialische Gruß der Nationalspieler war an das türkische Militär gerichtet, das seit Mittwoch einen viel diskutierten Angriffskrieg gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien führt.

Raketen wurden geschossen, es gab Tote, 100.000 Menschen sollen auf der Flucht sein. Und Tosun? Ließ keine Zweifel an seiner Vaterlandsliebe aufkommen. Unter dem geposteten Foto schrieb er: „Für unsere Nation, vor allem für diejenigen, die für unser Land ihr Leben riskieren.“ Auch den Treffer zum 1:1 der Türkei am Montagabend in Frankreich feierten die salutierenden türkischen Nationalspieler mit einem militärischen Gruß.

Doch was wollten Can und Gündogan, der in den Sozialen Netzen nach seinem Foto mit Türkeis Recep Tayyip Erdogan („Mein Präsident“) vor der WM 2018 als Wiederholungstäter gilt, mit ihren Likes nun eigentlich ausdrücken?

Wie Gündogan seinen Instagram-Like erklärt

Es dauerte eine knappe halbe Stunde in der Nacht zum Montag, ehe Ilkay Gündogan als letzter Nationalspieler aus der Kabine kam, zunächst ebenfalls nichts sagen wollte, es dann genau wie Can aber doch tat. „Es ist krass, aus was heutzutage Geschichten werden“, sagte also der Manchester-City-Star. „Ich dachte, ich like ein Foto von einem sehr guten Freund von mir, mit dem ich eine Zeit lang in Manchester gelebt habe.“

Man merkte Gündogan an, dass ihn die aufkommende Debatte beschäftigte. „Da war keine politische Absicht hinter. Ich habe den Like zurückgenommen, als ich gesehen habe, dass er politisch gewertet wurde“, versicherte der 28-Jährige noch eilig. „Emre und ich sind beide konsequent gegen jeglichen Terror und gegen jeglichen Krieg, egal wo er stattfindet.“

Alles also halb so wild? Oder wie es RTL-Experte Jürgen Klinsmann ein wenig einfältig formulierte: „Gündogan hat die Antwort auf dem Platz gegeben. Punkt. Aus. Thema beendet.“

Tatsächlich hatte Gündogan ein herausragendes Spiel in Tallinn absolviert. Zwei Tore, eine Vorlage, 180 Ballaktionen. Seit der modernen Datenerfassung hat kein Nationalspieler je bessere Statistiken gehabt. Doch auch wenn Klinsmann das anders sehen mag: Fußball ist mehr als 90 Minuten auf’m Platz. Und das Thema, das der TV-Experte offiziell für beendet erklärte, sollte gerade erst an Fahrt aufnehmen.

HSV-Trainer Hecking glaubt Gündogan

Sogar HSV-Trainer Dieter Hecking, der Gündogan vor acht Jahren in Nürnberg trainierte, wurde am Tag danach zu seinem ehemaligen Schützling befragt. „Ich kenne Ili ein bisschen. Wenn er sagt, dass er in erster Linie seinem ehemaligen Mitspieler gratulieren wollte, kaufe ich ihm das ab“, sagte Hecking, der für Besonnenheit in der Diskussion warb. „Es ist immer Interpretationssache, man muss ihm erstmal das Gegenteil beweisen.“

Ilkay Gündogan und Dieter Hecking kennen sich noch aus gemeinsamen Nürnberger Tagen.
Ilkay Gündogan und Dieter Hecking kennen sich noch aus gemeinsamen Nürnberger Tagen. © imago / Bernd Müller

Der HSV-Coach kann der Erklärung seines früheren Spielers folgen. "Ich glaube nicht, dass er etwas nur gesagt hat, um nach außen gut dazustehen. Er hat das schon so gemeint, wie er es gesagt hat. Da bin ich mir sehr sicher.“ Heckings Fazit: „Wir wollen alle keinen Krieg.“

Wie Düsseldorf und St. Pauli mit der Debatte umgehen

Das wollen natürlich auch Bundestrainer Joachim Löw („Beide wollten dem Spieler wohl einfach nur gratulieren“) und DFB-Direktor Oliver Bierhoff („Die beiden sind unpolitisch“) nicht. Doch obwohl die beiden noch in der Nacht zum Montag darum bemüht waren, nach der Affäre um Gündogans und Mesut Özils Erdoganfotos vor der WM in Russland kein Erdogangate 2.0 aufkommen zu lassen, war das mediale Kind längst in den Brunnen gefallen.

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Gündogans und Cans unbedarfte Like-Daumen waren nur die Spitze des Eisbergs. Selbst die zögerliche Uefa hatte schon vor Tagen angekündigt, den militärischen Gruß der türkischen Nationalspieler überprüfen zu wollen. „Politische Äußerungen sind in den Regularien verboten“, hatte Uefa-Sprecher Philip Townsend am Wochenende gesagt. „Deshalb werden wir dem Verdacht definitiv nachgehen.“

Gleiches haben in dieser Thematik auch der FC St. Pauli und Fortuna Düsseldorf getan – allerdings mit höchst unterschiedlichen Konsequenzen. St. Paulis Verantwortliche haben Offensivmann Cenk Sahin freigestellt. Düsseldorfs Verantwortliche haben dagegen die ebenfalls fleißig salutierenden Kaan Ayhan und Kenan Karaman ihr Vertrauen ausgesprochen. „Beide Spieler stehen für die Werte, die unser Verein lebt“, versicherte Fortunas Sportchef Lutz Pfannenstiel in einem schnellen Kommuniqué.

Tosun ist in Deutschland geboren

Ayhan und Gündogan sind in Gelsenkirchen geboren, Karaman in Stuttgart, Can in Frankfurt und Tosun in Wetzlar. Die Fußballer sind Deutsche – und stehen nun, ob sie wollen oder nicht, stellvertretend für eine deutsch-türkische Debatte, die in den kommenden Kriegswochen nicht nur den Fußball, sondern das ganze Land beschäftigen dürfte.

Beim DFB scheint man sich der Brisanz bewusst zu sein. Kurz vor der Abreise am Montag aus Tallinn versammelte sich die Mannschaft mit allen Betreuern zum gemeinsamen Foto im Teamhotel. „Gemeinsam für Offenheit, Vielfalt und Toleranz“, stand über dem Foto, dass die Medienabteilung des DFB flugs über die Sozialen Medien verbreitet. Im Zentrum des Bildes: Kapitän Manuel Neuer, der seine langen Arme um die Schultern von Gündogan und Can legt.

Nach einer Stunde hatte das Bild 13.000 Likes bei Instagram gesammelt. Unter den vielen gehobenen Daumen dabei: Emre Cans und Ilkay Gündogans.

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