London. Titelverteidigerin muss im All England Lawn Tennis Club eine erste deutsche Hürde nehmen. Helfen soll dabei auch ihr neuer Trainer.

Es ist nur ein kleiner, runder Anstecker, unauffällig trägt Angelique Kerber ihn an ihrem Shirt. Seine Wirkung allerdings ist immens. Im All England Lawn Tennis Club (AELTC) öffnet er jede Tür, ermöglicht Zugang zu all den exklusiven Annehmlichkeiten, die die rund 570 in fünf Kategorien unterteilten Mitglieder des weltberühmten Wimbledon-Gastgeberclubs genießen. Normalsterbliche haben kaum eine Chance, in diesen Genuss zu kommen, die Wartelisten sind lang, die Mitgliedschaft wird meist vererbt. Der einfachste Weg in den AELTC ist, das prestigeträchtigste Tennisturnier der Welt zu gewinnen.

Djokovic-Tanz in geliehenem Kleid

Angelique Kerber ist das im vergangenen Jahr gelungen. Deshalb erhielt die 31 Jahre alte Kielerin zum neuen Jahr ihren Anstecker, der sie als Ehrenmitglied ausweist, zugeschickt. „Außerdem wird man per E-Mail über alle Neuigkeiten informiert“, sagte sie am Sonntagmittag, als sie, vom Vorbereitungsturnier aus Eastbourne kommend, erstmals seit ihrem Triumph über Serena Williams (USA) am 14. Juli 2018 wieder die Anlage an der Church Road betrat. „Es war eigentlich alles wie im vergangenen Jahr, mit dem Unterschied, dass jetzt mein Bild im Club hängt“, sagte sie. Im Schatten ihres Portraits seien all die positiven Erinnerungen zurückgekommen; der verwandelte Matchball, das Hochstemmen des Meistertellers, und natürlich der Tanz der Champions im geliehenen roten Kleid mit Herrensieger Novak Djokovic.

Kerber vor deutsch-deutschem Duell

Von diesem Dienstag an ist es Zeit für neue Bilder. Kerber eröffnet ihre Mission, den Wimbledon-Titel als sechste Spielerin seit Beginn der Open-Ära 1968 erfolgreich zu verteidigen. Um 14 Uhr MEZ (Sky Sport News live und frei empfangbar) wartet auf dem Center-Court in einem deutschen Duell Tatjana Maria als Erstrundenhürde. Die 31-Jährige aus Bad Saulgau, an Position 65 der Welt 60 Ränge hinter Kerber eingestuft, gilt als starke Rasenspielerin, im vergangenen Jahr hatte sie in London die hoch eingeschätzte Ukrainerin Jelina Switolina in Runde eins ausgeschaltet. Zuletzt machte der Mutter einer Tochter zwar eine Verletzung zu schaffen, „dennoch ist das eine schwere Aufgabe, gegen eine Deutsche ist es immer besonders“, sagte Kerber, die das bislang einzige Duell mit Maria vor zehn Jahren verlor.

Rittner zählt Kerber zu den Top-Favoritinnen

Das sieht auch Barbara Rittner so. Die 46-Jährige, beim Deutschen Tennis-Bund (DTB) für die Damen verantwortlich, ist dennoch überzeugt davon, dass die dreifache Grand-Slam-Siegerin sich durchsetzen wird. Schließlich zählt sie Kerber neben der Weltranglistenersten und French-Open-Siegerin Ashleigh Barty (23/Australien) und der Ranglistendritten Karolina Pliskova (27/Tschechien), der Kerber bei der Wimbledon-Generalprobe im Eastbourne-Finale mit 1:6, 4:6 unterlegen war, zu den Topkandidatinnen auf den Titel.

„Angie fühlt sich auf Rasen wohl, es ist der beste Belag für ihr Spiel. Sie hat den perfekten Schwerpunkt für die flach abspringenden Bälle, macht kaum Fehler, und auch ihr Aufschlag kommt auf Rasen am besten. Außerdem glaube ich, dass es ein Vorteil sein wird, dass sie im vergangenen Jahr den Titel gewonnen hat. Die positiven Emotionen sind größer als der Druck, die Gejagte zu sein“, sagte Rittner im Gespräch mit dem Abendblatt.

Kerber zieht Wimbledon Paris-Titel vor

Tatsächlich präsentierte sich die deutsche Topspielerin vor dem Turnierstart gelöster als gewohnt. Ihre Antworten hatten mehr Tiefe als so oft, wenn die Anspannung vor wichtigen Matches sie in ein Schema verfallen lässt, in dem sie sich sicher fühlt. Wimbledon, das war ihr deutlich anzumerken, ist eine Wohlfühloase für Angelique Kerber, die hier 2012 erstmals im Halbfinale stand (und dort der Polin Agnieszka Radwanska 3:6, 4:6 unterlag) und 2016 das Finale gegen Serena Williams 5:7, 3:6 verlor.

Nach ihrem Triumph im vergangenen Jahr hatte sie erklärt, nun auch die French Open gewinnen zu wollen, um ihr Grand-Slam-Paket nach den Siegen bei den Australian Open und den US Open 2016 zu komplettieren. Nun jedoch gab sie unumwunden zu, dass sie, wenn die Entscheidung zwischen dem Sieg in Paris und einem zweiten Titel in Wimbledon fallen müsse, noch einmal Wimbledon wählen würde. „Dieses Turnier ist so besonders, hier weiß ich, was ich kann. Anders als auf Sand, wo ich gar nicht weiß, wie man darauf spielt“, sagte sie.

Schüttler soll Kerber weiter verbessern

Ihre Form einzuschätzen, das war in den vergangenen Monaten auch auf Hartplätzen nicht einfach, zu schwankend waren die Leistungen. Ein Turniersieg gelang ihr in dieser Saison noch nicht, in Indian Wells im März und zuletzt in Eastbourne stand sie immerhin im Finale. Krankheiten und eine Knöchelverletzung warfen sie immer wieder zurück. „Jetzt fühle ich mich aber fit, ich habe gut trainiert, viel Matchpraxis gesammelt, bin schmerzfrei und kann das Tennisspielen wieder genießen“, sagte sie. Der in Eastbourne mit Kinesio-Tape beklebte rechte Oberschenkel mache keinerlei Probleme.

Nachdem im vergangenen Jahr der Belgier Wim Fissette als Chefcoach für mehr mentale Stabilität gesorgt hatte, ist seit der aus finanziellen Gründen erfolgten Trennung im November der frühere Daviscupspieler Rainer Schüttler verantwortlich für die Trainingsarbeit. Welche Weiterentwicklung sie aus der neuen Konstellation für das aktuelle Wimbledon-Turnier erwarte, wurde Angelique Kerber noch gefragt. „Es sind auf diesem Level nur wenige Prozent, die man noch verbessern kann. Aber ich habe in den vergangenen Wochen hart dafür gearbeitet, die hier herausholen zu können“, sagte sie. Gelingt ihr das, dürften die Chancen auf ein neues Portrait im Clubhaus tatsächlich hoch sein.