Hamburg. Der frühere Daviscup-Kapitän spricht über das neue Rothenbaum-Turnier, mögliche Nachfolger für die Topspieler und Regeländerungen.

Die Achtelfinalteilnahme 1989, die mit einem 1:6, 1:6 gegen Ivan Lendl endete, ist sein bestes Resultat am Rothenbaum. Als Experte taugt Patrik Kühnen allerdings uneingeschränkt, schließlich ist der 53-Jährige, der von 2003 bis 2012 das deutsche Daviscup-Team als Kapitän anführte, als Turnierdirektor des ATP-250er-Events in München und Analyst für den Pay-TV-Sender Sky ganz nah dran am Herrentennis. Im Abendblatt-Interview erklärt der Saarländer, der mit seiner Familie in Dubai und Österreich lebt, was er vom neuen Rothenbaum erwartet, welchen deutschen und internationalen Talenten er den Durchbruch zutraut und warum er in Regelfragen eher Traditionalist ist.

Frage: Herr Kühnen, nach zehn Jahren unter der Ägide von Michael Stich hat Hamburg mit Sandra und Peter-Michael Reichel ein neues Turnierdirektorium. Was erwarten Sie?

Patrik Kühnen: Der Rothenbaum hat eine sehr große Tradition. Die Historie ist beeindruckend, alle großen Namen haben dort gespielt. Und ich denke, dass das Turnier auch heute noch eine große Bedeutung für die Spieler hat. Ich kenne die Pläne der Reichels nicht, aber ich würde mir wünschen, dass der Rothenbaum seinen Stellenwert im Turnierkalender behält und es weiterhin ein tolles Turnier ist.

Was würden Sie denn anders machen, wenn Sie Turnierdirektor wären?

Ich maße mir da kein Urteil an, dafür bin ich zu weit entfernt. Als ich vor zwei Jahren das letzte Mal am Rothenbaum war, da hat mir das, was ich gesehen habe, sehr gut gefallen. Es herrschte eine lebhafte Atmosphäre, es waren viele Zuschauer da, es gab Weltklassetennis zu sehen. Das Konzept, die Menschen kostenlos auf die Anlage zu lassen, kam gut an, man hat es geschafft, wieder mehr Zuschauer an das Tennis heranzuführen.

Das heißt, Sie hätten den Veranstalter nicht gewechselt?

Das ist nichts, worüber ich zu entscheiden hätte. Jeder weiß, dass ich mit Michael eng befreundet bin und ihm gewünscht hätte, dass er Turnierdirektor bleibt. Ich denke, er hat das Turnier 2009 in einem deutlich schlechteren Zustand übernommen, als er es zehn Jahre später übergeben hat. Er hat mit seinem Team tolle Arbeit geleistet und ein großartiges Turnier hinterlassen. Dennoch wünsche ich Familie Reichel alles erdenklich Gute für ihre neue Aufgabe. Vor allem drücke ich die Daumen, dass das Wetter mitspielt, es ein starkes Teilnehmerfeld gibt und die Zuschauer spannende Matches sehen.

Wie wichtig ist ein starkes Zugpferd für das Gelingen eines Turniers?

Selbstverständlich kann es für den Ticketverkauf hilfreich sein, wenn man große Namen präsentieren kann. Aber was, wenn der Topspieler früh ausscheidet? Das Credo der BMW Open by FWU in München ist deshalb, dass wir vom ersten bis zum letzten Ballwechsel Weltklassetennis bieten wollen. Ein starkes internationales und ausgewogenes Teilnehmerfeld ist daher immer unser Ziel. Wir möchten unseren Zuschauern vom ersten Tag an ein tolles Erlebnis bieten.

Immerhin hatten Sie in den vergangenen Jahren stets Deutschlands Topspieler Alexander Zverev am Start, der in seiner Heimatstadt Hamburg seit 2016 nicht mehr aufgeschlagen hat, weil ihm der Termin auf Sand zwischen Rasen- und Hartplatzsaison nicht passt. Deutsche Erfolge sind aber für deutsche Turniere überlebenswichtig, oder?

Sie sind auf jeden Fall sehr wichtig. Wir hatten in den vergangenen acht Jahren fünfmal einen deutschen Sieger. Dass Alexander Zverev bei uns spielt, ist keine Selbstverständlichkeit, deshalb sind wir darüber extrem froh und wissen seine Teilnahme sehr zu schätzen. Aber wir legen auch großen Wert darauf, unsere Wildcards an deutsche Talente zu vergeben, weil wir wissen, welchen Stellenwert einheimische Profis für die Fans haben. Deutschen Spielern sollte man Chancen aufrechterhalten, bei deutschen Turnieren zu spielen. Dennoch muss die Mischung aus Lokalhelden, internationaler Klasse und neuen Gesichtern stimmen.

Neue Gesichter sind ein gutes Stichwort. Stan Wawrinka war bei den US Open 2016 der letzte Grand-Slam-Sieger, der nicht Federer, Nadal oder Djokovic hieß, und auch er war beileibe kein Newcomer. Wann rüttelt denn nun die „Next Generation“ endlich nachhaltig am Thron der Etablierten?

Ich finde schon, dass in den vergangenen Monaten eine Menge Bewegung in die Szene gekommen ist. Aber man muss feststellen, dass Grand-Slam-Turniere eine Welt für sich sind. Über zwei Wochen in Best-of-five-Matches seine Leistung abzurufen und auch am Ende noch in Topverfassung zu sein hat viel mit Erfahrung zu tun, die die Arrivierten den Jungen voraushaben. Die Dominanz von Roger, Rafa und Novak ist atemberaubend. Aber auf Mastersebene und den Ebenen darunter ist viel passiert.

Wem trauen Sie denn am ehesten einen Grand-Slam-Titel zu?

Meine drei Topkandidaten sind aktuell Dominic Thiem, Alexander Zverev und Stefanos Tsitsipas. Für Thiem sprechen die Ergebnisse der ersten Monate dieser Saison, Tsitsipas hat eine tolle Spielanlage, ist ein sehr athletischer Typ, und Alexander Zverev ist mit seinem schnellen Spiel und seinem starken Aufschlag ebenfalls ambitioniert. Diese drei Spieler werden meines Erachtens nach eine große Rolle spielen, zudem haben alle auch noch viel Potenzial, sich weiterzuentwickeln. Zverev, der in den ersten Wochen mit einer Fußverletzung und einer Viruserkrankung zu kämpfen hatte, kam erst mit dem Turniersieg in Genf Ende Mai besser in Fahrt. Ihm ist zu wünschen, dass er diesen Schwung mitnimmt.

Welcher andere deutsche Spieler macht Ihnen noch Hoffnung?

Jan-Lennard Struff hat sich in dieser Saison gut stabilisiert, er wirkt gereifter und spielt gutes Tennis. Auch Philipp Kohlschreiber ist mit seiner Routine immer etwas zuzutrauen, das hat man zuletzt in Indian Wells bei seinem Erfolg über Novak Djokovic gesehen. Und dann haben wir mit Rudi Molleker ein weiteres großes Talent in der Hinterhand. Er ist mit seinen 18 Jahren schon recht reif, hat einen unbändigen Siegeswillen. Da bin ich sehr gespannt, wie er sich in den kommenden Monaten entwickelt.

Sehen Sie im Spitzentennis aktuell eine sportliche Weiterentwicklung, die Sie überrascht oder fasziniert?

Was mich ganz besonders beeindruckt, ist das athletische Level, auf dem sich das Tennis mittlerweile bewegt. Die Spieler sind alle fit, aber an der Athletik wird immer stärker gefeilt. Schauen Sie sich den Chilenen Cristian Garin an, der in diesem Jahr bei uns in München der Überraschungssieger war. Maßgeblich für seinen Erfolg war sicherlich auch seine Physis, seine Athletik. Der Italiener Matteo Berrettini, der gegen Garin im Finale verloren hat, ist ein weiterer Name. Immer wieder aufs Neue beeindruckend und hervorzuheben sind für mich aber allen voran Federer, Nadal und Djokovic. Sie suchen immer wieder neue Wege, um sich zu verbessern. Dies ist ein ganz entscheidender Faktor, um nach so vielen Jahren auf der Tour auch heute noch auf diesem Level spielen zu können. Athletik ist mehr denn je die Basis für eine sportliche Weiterentwicklung.

Weiterentwickelt werden auch stetig die Tennisregeln. Wie stehen Sie dazu?

Grundsätzlich bin ich schon eher ein Traditionalist, der dafür plädiert, das Spiel in seiner Urform nicht bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Es gibt allerdings Ideen, die ich sehr gut finde.

Zum Beispiel?

Von 2020 an wird bei allen ATP-Turnieren die sogenannte „Shot Clock“ verpflichtend. Das ist eine Uhr, die die 25 Sekunden herunterlaufen lässt, die die Spieler zwischen zwei Ballwechseln zur Erholung haben. Um in Zukunft Spielverzögerungen zu verhindern, wird die Zeit für alle sichtbar eingeblendet. Dem Spielfluss ist das zuträglich, deshalb haben wir diese „Shot Clock“ in München schon in diesem Jahr genutzt, und ich war mit dem Ergebnis durchaus zufrieden. Sie ist ein belebendes Element für den Spielfluss, gut zu integrieren und daher sinnvoll.

Neuerungen werden meist bei Nachwuchsturnieren getestet. Ein Ansatzpunkt war dort, Entscheidungssätze zu verkürzen oder nach Einstand sofort einen Entscheidungspunkt zu spielen, um Matches kürzer und damit TV-kompatibler und zuschauerfreundlicher zu machen. Wie gefällt Ihnen diese Regelung?

Interessanter Gedanke. Man muss abwägen, was an Dramatik verloren ginge, wenn man Entscheidungen künstlich verkürzt, und was man durch eine solche Veränderung gewinnen würde.

Und was halten Sie von der Idee, Linienrichter abzuschaffen und komplett durch technische Systeme wie das Hawk-Eye zu ersetzen?

Da bin ich gespalten. Natürlich entwickelt sich die Technik stetig weiter, und wenn es den Sport gerechter macht, ist es immer eine Überlegung wert, das auch zu nutzen. Allerdings befremdet es mich, wenn wir auch im Sport Menschen immer mehr durch Maschinen ersetzen. Man muss bei allen Veränderungen die Relation zwischen dem sehen, was man gewinnt, und dem, was man verliert. Ich bin absolut offen für Innovationen, aber sie dürfen das Gesicht des Tennis nicht grundlegend verändern.