Hamburg. Hamburgs beste Judoka startet in Minsk bei den Europaspielen. Fernziel sind die Olympischen Spiele in Tokio – aber ohne Druck.

Manchmal, wenn ihre Knochen wieder einmal ächzen von der Höchstbelastung im Training, nimmt sich Martyna Trajdos bewusst einige Minuten Auszeit. Dann denkt sie darüber nach, wie privilegiert sie eigentlich ist, weil sie ein Leben leben kann, das ausgefüllt ist von dem, was sie liebt. Und auch wenn das, was sie liebt, sie mit zunehmendem Alter heftiger und vor allem länger schmerzt, kann sie nach solchen Momenten der inneren Einkehr wieder entspannt auf die kommenden Monate blicken. Monate, in denen sie zur Kür ihrer Karriere Anlauf nehmen will. So zumindest sieht sie das.

„Alles, was jetzt kommt, ist ein Bonus. Ich versuche es zu genießen, ohne mir zu sagen, du musst dies, du musst das“, sagt die 30 Jahre alte Hamburgerin, die an diesem Sonntag bei der zweiten Auflage der Europaspiele in Weißrusslands Hauptstadt Minsk gefordert ist. Martyna Trajdos ist Judoka, eine der besten in Deutschland, und das schon seit sieben Jahren. Seit 2012 steht die in Polen geborene und als Säugling nach Deutschland gekommene Athletin in ihrer Gewichtsklasse bis 63 Kilogramm in der Top Ten der Weltrangliste. Sie hat nun sieben Jahre lang nicht nur ihr Gewicht, sondern auch ihre Klasse konserviert und wundert sich darüber manchmal selbst. „Besonders wenn ich Schwächephasen habe, so wie vom Herbst vergangenen Jahres bis zum März dieses Jahres, frage ich mich, warum ich immer noch da oben stehe“, sagt sie.

Der Zwang, die Beste sein zu müssen, quält sie nicht mehr

Die Antwort, die sie darauf gefunden hat, hat viel zu tun mit der neuen Lockerheit, die sich die Sportsoldatin verordnet hat. Wobei verordnet auch schon wieder so verkopft klingt, und genau das will Martyna Trajdos nicht mehr sein. Der Zwang, die Beste sein zu müssen, hat sie so viele Jahre getrieben. Jetzt, da Teamkolleginnen und Gegnerinnen immer jünger werden, glaubt sie, aus dem Teufelskreis des Sich-Beweisen-Müssens ausbrechen zu können. „Mein Vorteil ist meine Erfahrung. Ich sehe in jedem Training und auf jedem Wettkampf viele Jüngere mit Talent. Aber die machen Fehler, die erfahrenen Athletinnen nicht passieren und die diese ausnutzen. Deshalb bin ich immer noch oben“, sagt sie.

Nun, ganz so einfach ist auch die Judowelt kaum. Vielmehr hat Martyna Trajdos, 171 Zentimeter groß und bissig im Kampf wie eine scharfe Bulldogge, an ihrer Einstellung zum Sport nichts eingebüßt. Zwar sagt sie, dass es nicht möglich sei, über ein ganzes Kalenderjahr Topleistung zu bringen, und dass sie sich deshalb auf die Jahreshöhepunkte wie EM und WM konzentrieren müsse. Aber dann gewinnt sie doch Grand-Prix-Turniere, wie Ende Mai in Hohhot (China). „Da gibt es Punkte für die Weltrangliste, deshalb nehme ich diese Turniere auch sehr ernst“, sagt sie.

Das Fernziel ist Olympia 2020 in Tokio

Siebte ist die Wahl-Kölnerin im weltweiten Ranking aktuell. Das ist wichtig, weil nach der Weltrangliste bei Olympia gesetzt wird, und die Spiele 2020 in Tokio sind ihr Fernziel. Nachdem ihre Premiere im Zeichen der fünf Ringe 2016 in Rio de Janeiro gehörig schiefging, weil sie im Auftaktkampf gegen Lokalmatadorin Mariana Silva um den Sieg betrogen wurde, will sie in Japan noch einen Anlauf nehmen. Bei Weltturnieren ist sie noch ohne Medaille, bei der WM 2018 in Baku (Aserbai­dschan) verlor sie den Kampf um Bronze unglücklich nach Verlängerung.

„Damit habe ich genauso schwer gehadert wie mit der Niederlage in Rio“, sagt sie, „aber dann habe ich mir gesagt: Mach dir keinen Druck mehr. Genieße, was noch kommt.“ Genau das versucht sie nun, was nicht heißt, dass sie ambitionslos wäre. Natürlich will sie in Minsk aufs Treppchen, am liebsten ganz nach oben, so wie bei der Europaspiel-Premiere vor vier Jahren in Baku, als sie EM-Gold gewann. Auch in Weißrussland sind die Europaspiele gleichzeitig die Kontinentalmeisterschaften, „und ich werte es als gutes Omen, dass ich vor vier Jahren auch Gold geholt habe“, sagt sie.

Trajdos auf Platz zwei der Olympiarangliste

Die EM geht, wie alle großen internationalen Wettkämpfe im Zeitraum Mai 2018 bis Mai 2019, mit 50 Prozent in die Olympiaqualifikation ein. Von der WM an, die vom 25. August bis zum 1. September als olympisches Test­event in Tokio stattfindet, gehen die gewonnenen Punkte zu 100 Prozent in die Wertung ein. Daraus entsteht eine eigene Olympiarangliste, in der Martyna Trajdos aktuell an Position zwei steht. Die besten 16 lösen das Ticket. „Sollte klappen“, sagt sie.

Um im Kopf frisch zu bleiben, setzt die Athletin, die weiterhin für ihren Hamburger Heimatverein Eimsbütteler TV auf die Matte geht, auf Zerstreuung. So oft es geht, reist sie zwischen Wettkämpfen nach Hause, um in ihrer Kölner Wohnung auszuspannen. Außerdem hat sie an der Kölner Sporthochschule, wo sie zunächst Sport und Leistung studiert hatte, einen Masterstudiengang in Gesundheitsmanagement begonnen. „Ich merke, dass es mir guttut, aus der Gruppendynamik und der Sportroutine rauszukommen“, sagt sie. „Ich spüre zwar meine Knochen mehr als früher, aber ich kann auch besser in meinen Körper hineinhorchen.“ Selbstständiger sei sie geworden. Dort, wo früher die Trainer sagten, wo es langgeht, höre sie heute darauf, was ihr guttut. Und das darf man wirklich getrost als Privileg bezeichnen.

  • Weißrusslands Hauptstadt Minsk ist von diesem Freitag bis zum 30. Juni Gastgeber der zweiten Auflage der Europaspiele. Die Premiere fand 2015 in Baku (Aserbaidschan) statt. Alle 50 Nationalen Olympischen Komitees Europas haben ihre Teilnahme zugesagt, dennoch sind in den 15 Sportarten mit rund 4000 Athleten 2000 weniger als in Baku am Start. Deutschland ist mit 149 Aktiven vertreten, darunter aus Hamburg neben Martyna Trajdos noch die Judoka Miriam Butkereit und Moritz Plafky sowie die mittlerweile in Mülheim (Ruhr) lebende Badmintonspielerin Yvonne Li. Der Spartensender Sport 1 überträgt täglich live aus Minsk, insgesamt mehr als 100 Stunden.