Hamburg . Besuch auf dem Moorhof in Holm, wo Carsten-Otto Nagel alle Hindernisse des Hamburger Springreiterspektakels nachempfunden hat.

Der Wall ist weit mehr als mannshoch, und Pulvermanns Grab raubt einem schon vom Zuschauen den Atem. Respektvoll stehen wir an den beiden schwierigsten Hindernissen eines mit Tücken gespickten Derbyparcours. Wer beide an diesem Sonntag fehlerfrei überwindet, ist auf einem erstklassigen Weg Richtung Triumph. Übung macht den Meister, auch vor dem 90. Deutschen Springderby. Anders formuliert: Wer seine Pferde nicht speziell vorbereitet, wird im Wettstreit um das Blaue Band keine großen Sprünge machen.

„Muss man erst mal schaffen“, sagt Carsten-Otto Nagel in der ihm eigenen, norddeutschen Art. Schnackerei und Wortgirlanden sind seine Sache nicht. Umso besser kann er reiten: Zweimal, 1999 mit Wienerwirbel und 2010 im Sattel von Lex Lugar, brillierte der gebürtige Dithmarscher im Derby. In den Wochen vor dem Festtag des Pferdesports in Klein Flottbek ist der 56 Jahre alte Familienvater mit Wohnsitz in Tostedt doppelt gefragt: als mit enormem Erfahrungsschatz ausgestatteter Ratgeber sowie als Hausherr einer besonderen Reitanlage. Bei „CON“ sind die entscheidenden Derbyhindernisse vorhanden.

„Moin“, sagt eine junge Frau mit zusammengebundenem Haarschopf zur Begrüßung. Herzhaft schüttelt sie die Hand des Gastgebers. Man kennt sich gut. Willkommen auf dem Moorhof, einem idyllisch gelegenen, mustergültig angelegten Gestüt westlich von Hamburg. Das Dorf Holm liegt nahe. Das Team betreut 27 aktive Reitpferde. Saftig grüne Weiden, mit Holzzäunen umfasste Koppeln, uralter Baumbestand auf leicht moorigem Untergrund, so weit das Auge reicht. Ein Paradies für Pferde, aber auch für Menschen. Man kann sich gar nicht sattsehen an dieser knorrigen Kraft des Nordens. Die Besucherin und der Gestütschef passen ins Bild.

Im 89. Derby fehlerfrei über die Runde

Vor einem Jahr, im Frühling 2018, war Sandra Auffarth schon einmal hier. Im Sattel ihrer selbst gezogenen Fuchsstute Nupafeed’s La Vista überwand sie problematische Hürden gekonnt. Diese Extraportion Einsatz mit der Anreise aus dem Dorf Bergedorf bei Ganderkesee vor den Toren Bremens trug Früchte: Im 89. Derby vor einem Jahr kam das Paar fehlerfrei über die Runde und schnitt im Stechen zeitbedingt mit Platz drei exzellent ab. Mittlerweile haben die 32-Jährige und ihre aktuell zehnjährige La Vista an Reife gewonnen. Nicht nur Derbychef Volker Wulff sieht das Gespann als Mitfavoriten für die Entscheidung.

Dass es nichts geschenkt gibt, weder bei den 170.000 Euro Preisgeld im Blauen Band noch bei der Vorbereitung, wird an diesem Dienstag Mitte Mai deutlich. Zweieinhalb Wochen vor der Derbyentscheidung staut sich der Verkehr aus Richtung Bremen vor dem Elbtunnel dermaßen, dass Frau Auffarth mit ihrem Pferdetransporter umkehren muss. Statt am späten Vormittag testet sie nachmittags den Moorhof-Parcours. Zwischenergebnis: überaus zufriedenstellend. Der Wall mit den Hürden oben, Pulvermanns Grab und die anderen Hindernisse machen La Vista keinerlei Probleme.

In den Pausen tauschen sich Sandra Auffarth und Carsten-Otto Nagel unter vier Augen über die Finessen des Kurses aus. Beide treffen sich regelmäßig bei großen Turnieren; die Stippvisite heute ist eine Ausnahme. Aus gutem Grund, wegen der Hindernisse mit Seltenheitswert. Seit mehr als zehn Jahren wird die talentierte Sportlerin im Springreiten von Marcus Döring trainiert.

Reitpremiere als Sechsjähriger

Der 40 Hektar große Ausbildungs-, Pensions- und Verkaufsstall mit Fachwerk und Reet daheim in Bergedorf wird seit Generationen von der Familie betrieben. Sandras Mutter Bärbel kümmert sich um Organisation, Vater Karl-Heinz um die Landwirtschaft: Grünfutter, Heu und Silage für den Eigenbedarf. 2014, nach dem Abitur und der Ausbildung zur Pferdewirtin sowie Sport- und Fitnesskauffrau, übernahm Sandra Auffarth die Chefrolle auf dem ehemaligen Bauernhof. Auf einem Geländeplatz steht einmal jährlich eine Springprüfung der gehobenen Klasse S auf dem Programm.

Vielseitigkeit ist ihre Leidenschaft – im wahrsten Sinne des Wortes. Bei der Weltmeisterschaft 2014 gewann die Vielseitigkeitsreiterin Doppelgold in der Einzelwertung sowie mit der Mannschaft. Und bei den Olympischen Spielen gewann sie für Deutschland Gold (2012 in London mit dem Team), Silber (2016 in Rio mit dem Team) und Bronze (2012 im Einzel).

Dieser Ruhm hallt nach. Keinesfalls ausgeschlossen, dass am Sonntag Eichenlaub hinzukommt. Nach Expertenmeinung hat La Vista das Zeug dafür – und ihre Reiterin die nötige Courage. Das weiß auch Carsten-Otto Nagel. Der zweifache Derbysieger, mehrfache Welt- und Europameister erlebte seine Reitpremiere als Sechsjähriger auf dem elterlichen Hof in Friedrichskoog. Seit 1991 ist er als Gestütsleiter auf dem Moorhof aktiv. Die Anlage, die einst vom Kaffeeunternehmer Max Herz (Tchibo) erworben wurde, gehört heutzutage dessen Sohn Michael Herz. Damals wie heute ist Zurückhaltung geschäftliche Tugend.

Einer von Nagels Vorgängern als Gestütschef war die Derbylegende Achaz von Buchwaldt aus Blankenese. Der Grandseigneur des Springreitsports nennt den Grund für die speziellen Hindernisse auf dem Moorhof: „Früher waren solche Hürden modern und in Anlehnung an die Holsteiner Naturlandschaft überall im Norden vorhanden.“ Aus der Jagdreiterei entstanden, galten sie jahrzehntelang als angesagte Härtefälle. Es gab quasi kein Turnier ohne eine Hürde à la Pulvermanns Grab.

Stimmungsvolle Kulisse mit 25.000 Zuschauern

Nach und nach wurden sie fast überall zugeschüttet oder durch andere, mit Holzstangen bestückte Hindernisse ersetzt. Auf dem Moorhof wird diese Tradition weiterhin gepflegt. Neben Auffarth nutzen Topreiter wie Janne Friederike Meyer-Zimmermann oder André Thieme den Testparcours. Diese Gastfreundschaft ist eine Gefälligkeit unter Kollegen; Geld wird nicht fällig. Wie einfühlsam vor Ort mit ausgedienten Turnierpferden umgegangen wird, beweist eine kleine Koppel abseits des Übungsparcours, von Nagel als „Rentnertreff“ bezeichnet. Neben dem Stall grasen die 20 Jahre alte Corradina, der 24 Jahre alte Rappe Conception und der nicht minder in die Jahre gekommene Fuchs Lafayette Seite an Seite entspannt in der Sonne. Derbystress? Was ist das denn?

Anlass zum Innehalten. Dieser Besuch auf dem Moorhof bei Holm liegt gut zwei Wochen zurück. Im Park von Klein Flottbek werden die letzten Vorbereitungen für das Derby getroffen. Als Wohnung während der fünf Veranstaltungstage dient Sandra Auffarth ein passend eingerichteter Lkw. Während „CON“ nicht am Derby teilnimmt, sondern mit La Conga die Viersternetour reitet, strebt Frau Auffarth nach dem Blauen Band. „Nupafeed’s La Vista ist ausgezeichnet in Schuss“, sagt sie bei einem Glas Mineralwasser abseits der Arena.

Die Pluspunkte ihrer Fuchsstute? „Selbstbewusstsein, Springvermögen, enormer Mut“, entgegnet sie. Und „Remmidemmi als Ansporn“. Die stimmungsvolle Kulisse mit rund 25.000 Zuschauern sei Motivation. „Sie mag das“, weiß Sandra Auffarth. „Ein Start im Derby macht sie glücklich.“ Zumal La Vista ihre vertrauten Kollegen in der Nähe weiß: Landlord sowie Steve. Das auch in Flottbek präsente Trio entstammt der eigenen Zucht in Bergedorf. Da die männlichen Kumpels Wallache sind, hat La Vista ihre Ruhe.

Das Derby-Programm

Prüfungen: Das sportlich hochwertigste Springen ist am Sonnabend (15.15 Uhr) der Große Preis von Hamburg, die Wertungsprüfung der Longines Global Champions Tour. Das Deutsche Springderby startet am Sonntag um 13.45 Uhr. Freunde des Dressursports sollten am Sonntag um 11 Uhr das Deutsche Dressurderby mit Pferdewechsel nicht verpassen, zu dem Anabel Balkenhol (47/Hilden) mit Davinia, Susan Pape (57/Hemmoor) mit Grafit und Frederic Wandres (32/Hagen) mit Westminster antreten.

Fernsehen: Der NDR überträgt am Sonnabend (15 bis 17 Uhr) und am Sonntag (13.20 bis 15 Uhr), das Derbyfinale läuft von 16 Uhr an im ZDF. Sollte es ins Stechen gehen, wird der Sieger in der ZDF-Sportreportage (17.10 Uhr) vermeldet.

Tickets: Tribünenkarten sind fürs Wochenende ausverkauft, Stehplätze sind an den Tageskassen von 7 Uhr an zu haben.