Hamburg. Der frühere HSV-Kapitän hat viele Stressmomente erlebt. Ein Gespräch über Druck im Fußball und feste Rituale als Gegenmittel.

Während einige HSV-Profis das freie Wochenende für Ausflüge nach Mailand (Lewis Holtby) oder in die Schweiz (Léo Lacroix) nutzten, blieb Gotoku Sakai in Halstenbek. Hier wohnt der Japaner alleine an der Grenze zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein. Seine Frau und seine Töchter (sieben und acht Jahre alt) sind für zwei Wochen aus Japan gekommen und geben dem Verteidiger Kraft für die nervenaufreibenden Wochen bis zum Saisonfinale. Der 28-Jährige, der sein Team am kommenden Sonnabend beim VfL Bochum wieder als Kapitän anführen wird, kennt sich mit Druckmomenten gut aus. „Wir brauchen jetzt ganz viel Konzentration“, sagt Sakai, als er in Badelatschen zum Gespräch mit dem Abendblatt erscheint.

Hamburger Abendblatt: Herr Sakai, können Sie an drei freien Tagen mitten in der entscheidenden Saisonphase vom Fußball abschalten?

Gotoku Sakai: Nein, das kann ich nicht. Und ganz frei haben wir ja auch nicht. Wir haben auch für die freien Tage ein Trainingsprogramm mitbekommen, um an unserer Fitness für das Bochum-Spiel zu arbeiten. Die Konzentration bleibt an solchen Tagen hoch. Zum Glück ist meine Familie gerade für zwei Wochen in Hamburg zu Besuch. Sie hilft mir, auch mal an andere Sachen zu denken. Wir bleiben hier zu Hause in Halstenbek und genießen die Ruhe.

Spüren Sie innere Unruhe nach dem Rückschlag gegen Darmstadt?

Sakai: Ich bin ein Typ, der immer viel nachdenkt, besonders nach Niederlagen. Das kann schon einige Tage anhalten. Aber wir haben noch acht Spiele und alles selbst in der Hand. Dafür müssen wir aber dringend unsere Fehler abstellen wie gegen Darmstadt. Auch ich habe mich geärgert über meinen Fehler vor dem 1:2. Als Führungsspieler bin ich verantwortlich, dass wir so ein Spiel nicht mehr verlieren. Das ist mir leider nicht gelungen. So eine Niederlage darf nie wieder passieren. Wichtig ist, dass wir dieses Erlebnis aus den Köpfen kriegen.

Wie verarbeiten Sie solche Niederlagen? Schauen Sie Fernsehen? Gehen Sie spazieren? Oder direkt ins Bett?

Sakai: Nach Niederlagen schlafe ich sehr schlecht, manchmal gar nicht. An solchen Tagen kann mir niemand helfen. Ich sitze dann einfach nur still auf dem Sofa und denke über das Spiel nach. Dann laufen die Szenen vor meinem Kopf ab und ich überlege, was ich hätte besser machen können. Nach Siegen ist das einfacher. Da habe ich einfach nur gute Laune.

Ihre Familie ist nur zwei Wochen zu Besuch. Die wird es kaum akzeptieren, wenn Sie schlechte Laune haben.

Sakai: Das stimmt, meine Töchter lassen es nicht durchgehen, wenn ich mies gelaunt bin. Sie waren gegen Darmstadt auch im Stadion und haben gar nicht mitbekommen, dass wir am Ende noch verloren haben. Aber sie haben schnell gemerkt, dass ich nicht gut drauf war, als ich nach Hause kam. Sie machen dann Späße und lachen. Das hilft mir schon.

Kennen Sie das Wort Lampenfieber?

Sakai: Nein, was bedeutet das?

Es beschreibt die Aufregung vor einem Auftritt. Das müssten Sie kennen. Sie haben mit Japan ein entscheidendes WM-Spiel bestritten, mit Stuttgart das Pokalfinale gegen Bayern München gespielt. Sind Sie noch nervös, wenn es gegen Bochum geht?

Sakai: Ehrlich gesagt nicht. Das war ich aber auch bei der WM nicht. Ich hätte erwartet, dass ich aufgeregter bin, also mehr Lampenfieber habe. Dann dachte ich, ist ja alles gar nicht so schlimm. Nein, nervös bin ich vor Spielen nicht mehr.

Per Mertesacker hat mal gesagt, dass er den Druck vor Spielen so groß empfunden hat, dass er sich häufig übergeben musste. Können Sie das nachempfinden?

Sakai: Ja, aber ich empfinde die Anspannung anders. Ich weiß mittlerweile genau, was ich tun muss, um meine Konzentration zu finden und nicht nervös zu werden.

Verraten Sie uns, was Sie vor einem Spiel machen?

Sakai: Mein Ablauf ist immer derselbe. Das fängt morgens beim Aufstehen an. Wenn wir das letzte Spiel gewonnen haben, ziehe ich immer dasselbe T-Shirt, dieselbe Unterwäsche und denselben Schmuck an. Im Bus zum Stadion lese ich ein paar Seiten in einem japanischen Buch. Dann höre ich Musik, damit ich alles ausblende. Ich steige immer als Zweiter oder Dritter aus dem Bus. Dann sortiere ich meine Kleidung, gehe zum Physio, tape mich. Dann kommen die Socken, erst links, dann rechts, dann Stabi im Kraftraum. Dann wieder die Schuhe, erst links, dann rechts. Das sind alles Abläufe, die mir Sicherheit geben. Nervös werde ich nur, wenn ich das Gefühl habe, ich kriege Zeitprobleme und werde hektisch.

Machen Sie vor Spielen Mentaltraining?

Sakai: Im Abstiegskampf habe ich meditative Übungen gemacht, Atemtechniken zum Beispiel. Oder auch die Technik, Bilder im Kopf zu erzeugen, die eine positive Energie vermitteln. Ich habe auch immer viel Lifekinetik gemacht mit einem Trainer, den ich noch aus Stuttgart kenne.

Sie haben mit dem HSV schon viele Druckmomente im Abstiegskampf erlebt. Ist der Stress im Aufstiegskampf vergleichbar?

Sakai: Der Druck ist ähnlich groß, aber das Gefühl ist ganz anders. Es ist ein positiver Druck. Der Druck im Abstiegskampf war schon immer sehr belastend, insbesondere weil der Club zuvor nie abgestiegen war.

Was war der größte Druckmoment Ihrer Karriere?

Sakai: Da fällt mir sofort das letzte Saisonspiel vor zwei Jahren gegen Wolfsburg ein. Wir mussten gewinnen, um die Relegation zu vermeiden. Ich war Kapitän. Kurz vor Schluss spiele ich den langen Ball auf Filip Kostic und denke nur: Bitte, bitte, lieber Ball, komm an! Dann köpft Luca Waldschmidt die Flanke rein. In der Nachspielzeit habe ich nur noch gebetet, dass der Schiri endlich abpfeift. Dann fiel der ganze Druck ab, der sich über Monate aufgebaut hatte. Fast die ganze Stadt hat gefeiert. Das war einfach nur geil. Ein toller Moment, aber auch ein riesiges Druckerlebnis.

Täuscht der Eindruck, dass der HSV unter Druck erfolgreicher spielt?

Sakai: Das habe ich auch schon gedacht. Wir haben uns in meiner Zeit beim HSV schon oft aus großen Drucksituationen befreit. Ich hätte gerne manchmal weniger davon. Aber wenn wir unter Druck immer so spielen wie im Derby bei St. Pauli, kann die Anspannung gerne immer so hoch sein (lacht).

Herr Sakai, stellen Sie sich vor, dass Sie am letzten Spieltag gegen Duisburg einen Sieg brauchen, um aufzusteigen. Erzeugt diese Vorstellung Druck?

Sakai: Bis wir an dem Punkt sind, müssen wir noch ganz andere Druckmomente überstehen. Aber wenn es so kommen sollte, dann müssen wir den Druck ausblenden und uns einfach klarmachen, dass wir etwas Großes erreichen können.