Wattenscheid/Berlin. Sprinter Alexander Kosenkow (41) hat sich neu erfunden: Er ist jetzt Begleitläufer. Mit der sehbehinderten Katrin Müller-Rottgardt.

Im Berufsleben wird selbst von etablierten Fachkräften erwartet, dass sie sich weiterentwickeln, sich fortbilden, ständig dazulernen. Lebenslanges Lernen lautet das Stichwort. Auch Sprinter Alexander Kosenkow musste sich das Laufen mit 41 Jahren noch einmal ganz neu beibringen. „Bislang hieß es für mich immer: Augen zu und durch. Nach dem Startschuss haben nur noch die Instinkte funktioniert“, sagt der Sportler vom TV Wattenscheid 01. Doch seit er als Begleitläufer mit der sehbehinderten Katrin Müller-Rottgardt zusammenarbeitet, muss Kosenkow umdenken. „Jetzt muss ich den Kopf beim Laufen anlassen. Das war für mich eine große Umstellung.“

Als Guide für die Para-Leichtathletin kann Kosenkow nicht einfach drauflosrennen. Stattdessen muss er sich auf den Laufstil von Müller-Rottgardt einlassen, muss Armschwung, Schrittlänge und Frequenz mit ihren Bewegungen abstimmen. „Am Anfang ist ihm das ziemlich schwer gefallen“, sagt die 36-Jährige. „Alex hat gedacht, dass er mich schon irgendwie hinter sich herziehen kann. Aber so funktioniert es nicht“, sagt Müller-Rottgardt, die ebenfalls für Wattenscheid startet.

Titelanwärter über 200 Meter

Im Rennen sind Kosenkow und sie über ein Schnürband an der Hand miteinander verbunden. Und mittlerweile klappt das synchrone Sprinten schon deutlich besser: Bei der Para-Leichtathletik-EM in Berlin gewann das Paar in dieser Woche Gold über 100 Meter. „Das ist ein Traum, dass ich meinen EM-Titel von 2016 hier erfolgreich verteidigen konnte“, sagt Müller-Rottgardt. Groß gefeiert wurde allerdings nicht: Schon am nächsten Tag trat sie im Weitsprung an und holte Silber – allerdings ohne Kosenkow. Über 200 Meter ist er am Freitag aber wieder an ihrer Seite. Auch auf dieser Strecke sind die Wattenscheider ein Titel-Anwärter.

Die beiden arbeiten erst seit einem Dreivierteljahr zusammen. Bis 2016 ist Katrin Müller-Rottgardt mit Sebastian Fricke gelaufen, der nach der Bronzemedaille über 100 Meter bei den Paralympics in Rio de Janeiro aber aufgehört hat. Mit Noel-Philippe Fiener wurde sie 2017 Vizeweltmeisterin über 100 und 200 Meter, doch inzwischen konzentriert sich Fiener wieder auf seine eigene Karriere.

Kosenkows lange Karriere

Für Alexander Kosenkow sind die Rollen dagegen klar verteilt: „Katrin ist die Hauptperson“, sagt er. Der nimmermüde Routinier kann auf eine glanzvolle Laufbahn zurückblicken: Sieben Mal wurde er im Freien und in der Halle deutscher Meister, mit dem 4x100-Meter-Quartett holte er drei EM-Medaillen und lief 2012 mit der Staffel deutschen Rekord. „Aber meine Leistungssportkarriere neigt sich so langsam eben doch dem Ende entgegen“, sagt er. Die Betätigung als Begleitläufer sei genau das Richtige, um „aktiv herunterzufahren“, sagt Kosenkow. Nach den Paralympischen Spielen 2020 in Tokio soll für ihn dann aber Schluss sein.

Für Katrin Müller-Rottgardt wären es die vierten Paralympics und die zweiten im Trikot des TV Wattenscheid. Seit Herbst 2013 ist die gebürtige Duisburgerin wieder im Westen, nachdem sie zuvor elf Jahre lang in Berlin trainierte.

Sie kehrte auch aus privaten Gründen in die Heimat zurück: „Meine Augen werden schlechter. Deshalb wollte ich gern in der Nähe meiner Familie sein, falls ich einmal Unterstützung benötige.“

Bei der EM startet sie am Wochenende noch mit der Staffel sowie über 400 Meter. Letztere ist eine Distanz, bei der auch Kosenkow an seine Grenzen stößt – die Stadionrunde ist er selbst nie gelaufen. „Mal gucken, ob er ankommt“, sagt Katrin Müller-Rottgardt und lacht. „Ansonsten muss ich ihn vielleicht ausnahmsweise einmal hinter mir herziehen.“