Watutinki. Viele Russen freuen sich auf das Fußballfest – andere auf die Möglichkeit, einmal gehört zu werden.

An diesem Donnerstag ist es also endlich so weit. Erst wird Superstar Robbie Williams gemeinsam mit der russischen Sopranistin Aida Garifullina auftreten, dann dürfte Fifa-Präsident Gianni Infantino die „beste Weltmeisterschaft aller Zeiten“ feierlich eröffnen. Natürlich wird auch Russlands Staatspräsident Wladimir Putin im ausverkauften Luschniki-Stadion in Moskau dabei sein, ein paar nette Worte zum Besten geben und artig beklatscht werden. Und ganz zum Schluss wird dann aller Voraussicht nach auch noch der Ball rollen. Ein echter Feinschmecker: Russland gegen Saudi-Arabien. Und Konstantin? Wird vermutlich schlafen.

Es ist weit nach Mitternacht, als im Musikclub Cultura Konstantin endlich ans Keyboard darf. Der Blondschopf trägt Brille, offenes Hemd, schwarzes Shirt – und natürlich fette Kopfhörer. Langsam wippt sein Kopf passend zum Beat, für den er selbst sorgt. Die Tanzfläche ist voll. Wer auf der Suche nach „dem neuen Russland“ ist, der wird hier fündig. Gerade einmal 8,8 Kilometer ist der Electro-Schuppen vom Luschniki-Stadion entfernt – doch besonders an diesem Abend scheinen den rappelvollen Musiktempel im Hinterhof des Pokrovskiy Bulvar und die für die WM renovierte und nun größte Fußballkathe­drale Welten zu trennen.

Flächengrößtes Land der Welt

„Fußball interessiert mich eigentlich nicht“, gibt DJ Konstantin in einer kurzen Zigarettenpause zu. Auf die Weltmeisterschaft freut sich der 34 Jahre alte Russe aber trotzdem: „Ich finde es gut, dass viele Ausländer kommen, dass man ins Gespräch kommt und dass sich die Welt einen eigenen Eindruck von der Vielseitigkeit unseres Landes machen kann.“

Robbie Williams stimmt die Fans auf die WM ein

Russland ist das mit Abstand flächengrößte Land der Welt. Mit mehr als 17 Millionen Quadratkilometern ist das Land fast so groß wie die Nummer zwei (USA) und die Nummer drei (Kanada) zusammengenommen. Zwischen St. Petersburg im Nordwesten und Wladiwostok im Südosten liegen knapp 9000 Kilometer.

Beim Stadionbau verschwanden Millionen

Als also jenes Riesenreich im Dezember 2010 in Zürich den Zuschlag für die Ausrichtung der diesjährigen WM bekommen hat, gab der begeisterte Präsident Putin eine russische Volksweisheit zum Besten: „Bei uns sagt man: Wer nichts riskiert, trinkt auch keinen Champagner.“ Acht Jahre später wird man sehen, wer am 15. Juli, dem Finaltag, tatsächlich Champagner trinkt. Im Club Cultura bestellt sich Konstantin lieber ein frisch gezapftes Bier – und berichtet gemeinsam mit seiner Freundin Yana ein wenig über das Riskieren.

„Wer sich in der Opposition engagiert, der bekommt Probleme“, sagt Konstantin. Der Musikfan hat in Berlin Kulturwissenschaften studiert, ist nach insgesamt sieben Jahren in Deutschland 2013 zurück nach Russland gekommen. Kurz bevor die Wirtschaftssanktionen verhängt wurden. „Bei uns ist das mit den Menschenrechten wie mit dem WLAN. Theoretisch haben wir es, aber praktisch funktioniert es nicht“, sagt Yana, die in Südafrika, in Großbritannien und ebenfalls ein Jahr in Berlin gelebt hat.

Schönes Russland

In Theorie und Praxis ist die Fußballweltmeisterschaft in Russland zunächst einmal: ein Fußballturnier. Doch wer in diesen Tagen über gemeinsame Fotos mit Nationalspielern und Despoten dieser Erde diskutiert, der dürfte auch schnell verstehen, dass so eine WM eben auch eine Bühne ist. Für die einen. Und für die anderen.

Während in Deutschland leidenschaftlich über das Treffen von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gestritten wird, ist in Russland das gemeinsame Foto mit Ägyptens Superstar Mohamed Salah und Ramsan Kadyrow maximal eine Randnotiz. Kadyrow ist selbsterklärter Schwulenhasser („Wir haben keine Schwulen).

Und wenn es sie gibt, nehmt sie mit nach Kanada, weit weg von uns, damit unser Blut gesäubert wird“) und despotischer Alleinherrscher in der Teilrepublik Tschetschenien, wo die ägyptische Nationalmannschaft trotz (leiser) Proteste residiert. Doch für Russlands Zentralregierung könnte sich die Austragung der WM im schlechtesten Fall (oder je nach Blickwinkel: bestenfalls) zu einer Art russischem Roulette entwickeln: Einerseits bietet so ein Turnier die Möglichkeit, die Reihen zu schließen. Andererseits öffnet man sich nach außen.

„Die ganze Welt wird in den nächsten Wochen sehen, wie schön es in Russland ist“, sagt Igor freundlich. Der etwas füllige Herr mit dem etwas schütternden Haar steht direkt vor dem WM-Countdown am Roten Platz. „Zwei Tage, sieben Stunden, 50 Minuten“, steht auf dem Ziffernblatt am Dienstagmorgen. „Ich kann es gar nicht erwarten“, sagt Igor, der sich während der Weltmeisterschaft als Freiwilliger für die Fifa gemeldet hat. Sein Lohn: ein roter WM-Trainingsanzug, der über seinem Bäuchlein ein wenig spannt. Seine Aufgabe: Touristen und Fans helfen und Fragen beantworten. „Ich bin mir sicher“, sagt Igor strahlend, „dass die Leute einen guten Eindruck von Russland bekommen.“

11,8 Milliarden Dollar soll WM offiziell kosten

Fragen gibt es vor dem Startschuss der 21. Weltmeisterschaft jedenfalls mehr als genug. Oppositionelle werden eingesperrt, beim Stadionbau verschwanden Millionen und dann gibt es da ja auch noch die Krim-Annexion, die Kriege im Donbass sowie in Syrien und die Gerüchte über russische Einflussnahme bei den US-Wahlen. „Seit 2012 hat sich die allgemeine Menschenrechtslage dramatisch verschlechtert“, steht im Russland-Handbuch der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

WM-Spielplan als PDF: Alle Gruppen und alle Spiele

Von dieser Menschenrechtslage wollen sich die Organisatoren ihre WM allerdings nicht kaputt machen lassen. Rechtzeitig zum größten Sportfest der Welt ist schließlich alles fertig geworden: die Stadien, die Flughäfen, die Hotels. In Moskau gibt es keine größere Straße, an der nicht die weiß-blau-roten WM-Fähnchen wehen. „Welcome Germany!“, steht auf einer großen Werbetafel in der Mnevniki Ulitsa. Auch das WM-Maskottchen Zabivaka, ein Fußball spielender Wolf, ist allgegenwärtig.

Erste Fangruppen

Und am Mittwoch reisten auch schon die ersten Fangruppen an. Hier singende Saudis auf dem Roten Platz, dort tanzende Brasilianer vor dem Kreml. Und um die bunt geschmückten Anhänger staunende Russen, die von Gruppe zu Gruppe eilen und auf ihren iPhones Fotos machen. „Es wird ein wunderbares Fest“, hatte Präsident Putin vor Kurzem nicht umsonst versprochen.

Vor allem aber ein ziemlich teures Fest. 11,8 Milliarden Dollar soll die WM laut offiziellen Angaben kosten. In Wahrheit dürften die Kosten wohl sehr viel üppiger ausfallen. Allein die Kretowski-Arena, der neue Fußballtempel in St. Petersburg, soll laut Transparency International (TI) 1,38 Milliarden Dollar verschlungen haben. Doch unabhängig davon, wie hoch die Gesamtkosten für die Putin-Spiele tatsächlich sein mögen, steht eines schon jetzt fest: Nach den mit 51 Milliarden Euro teuersten Winterspielen aller Zeiten von Sotschi 2014 wird auch die heute startende WM mit Sicherheit die teuerste Weltmeisterschaft aller Zeiten werden.

Laute Propaganda, leise Proteste

Konstantin schüttelt im Club Cultura mit dem Kopf. „Geldverschwendung“, sagt er. Als DJ, Musikproduzent und Werbetexter verdient er rund 1000 Euro im Monat. Seine kleine Einzimmer­wohnung im Zentrum kostet 25.000 Rubel, umgerechnet rund 340 Euro. „Ich habe gehört“, sagt er, „dass sie in Städten wie Saransk oder Kaliningrad riesige Stadien gebaut haben, wo normalerweise nur ein paar Tausend Zuschauer zu den Fußballspielen gehen.“

Als ein notorischer WM-Nörgler will Konstantin aber nicht gesehen werden. „Gerade Moskau hat sich in den vergangenen Jahren krass entwickelt“, sagt der Fußballmuffel. Das Metro-Netz wird ­immer weiter ausgebaut – und rechtzeitig zur WM sind auch die meisten zweisprachigen Hinweisschilder fertig geworden. „Moskau und der Rest von Russland sind allerdings zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe“, betont der frühere Wahlberliner. „Die jungen Leute hier sind in großen Teilen kritisch, lassen sich nicht durch die Propaganda im Fernsehen beirren und verfolgen Oppositionspolitiker wie Alexej Nawalny über YouTube.“ Auf dem Land sei das anders. Ganz anders.

Laute Propaganda, leise Proteste, ein bisschen Politik und ganz viel Patriotismus. Irgendwo dazwischen wird sich wohl auch diese Weltmeisterschaft wiederfinden. „Wahrscheinlich werde sogar ich auch mal ein Spiel schauen“, sagt Konstantin, als seine Electroparty um 5 Uhr morgens dem Ende entgegengeht.

Denn falls es jemand vergessen haben sollte: Fußball wird in Russland auch noch gespielt.