Hamburg. Hamburger Autor Stephan Orth hat vor der Fußball-WM das Gastgeberland besucht. Ergebnis ist ein hochamüsanter Bestseller.

Stephan Orth ist keiner, der lange um den heißen Brei herumredet. Herumschreibt. „Willkommen am Arschloch der Welt“, zitiert der Buchautor gleich in seinem zweiten Satz die Leiterin der Dezernate Kultur und Jugend der Stadtverwaltung von Mirny. Republik Jakutien. 37.188 Einwohner. Ferner Osten Russlands – dem Gastgeberland der Fußball-Weltmeisterschaft.

Platz zum Schlafen ist in der kleinsten Hütte, und ein Radiator verströmt Wärme auch dort, wo man es nicht erwartet. Autor Stephan Orth hat beim Couchsurfing in Russland viele Arten von Betten und anderen Schlafgelegenheiten ausprobiert
Platz zum Schlafen ist in der kleinsten Hütte, und ein Radiator verströmt Wärme auch dort, wo man es nicht erwartet. Autor Stephan Orth hat beim Couchsurfing in Russland viele Arten von Betten und anderen Schlafgelegenheiten ausprobiert © Stephan Orth

Monate später sitzt Orth, langer Lulatsch, Dreitagebart, wache Augen, in der Moraba im Hamburger Schanzenviertel und muss lachen. Ein schmissiger Start sei doch immer gut. Vor dem 39 Jahre alten Buchautoren steht ein Cappuccino und liegt ein Buch. Sein Buch. „Couchsurfing in Russland – Wie ich fast zum Putin-Versteher wurde“. Mit dem Startkapitel über jenes Mirny, das selbst dem „Lonely Planet“ zu lonely war.

Ein Russland-Verstehenwoller

Natürlich ist Orth kein wirklicher Putin-Versteher. Aber doch ein Russland-Verstehenwoller. „Die Herzlichkeit der Menschen ist faszinierend. Nach wenigen Minuten hat man das Gefühl, bereits zur Familie und deren Zuhause dazuzugehören“, sagt Orth, der zehn Wochen lang im WM-Land zwischen Moskau und Grosny, zwischen Sankt Petersburg und Wladiwostok und zwischen der Krim und eben Mirny reiste. Nicht nur reiste, sondern lebte. Nicht im Hotel, auf dem Campingplatz oder in einer Jugendherberge. Sondern bei den Menschen. Zu Hause. In deren Wohnung. Oft nur auf einem Sofa – oder eben auf einer Couch.

Beeindruckt von der Basilika auf dem
Roten Platz in Moskau
Beeindruckt von der Basilika auf dem Roten Platz in Moskau © Gulliver Theis

Couchsurfing funktioniert so: Auf der gleichnamigen Website können Reisende bei Einheimischen eine Schlafmöglichkeit anfragen. In Deutschland, in Russland oder sonst wo auf der Welt. So hatten sich im Juni 2015 nach eigenen Angaben mehr als zehn Millionen Mitglieder auf dem Onlineportal registriert. Allein in Russland gibt es 15.901 Couches­, die am Tag des WM-Eröffnungsspiels am Donnerstag zur Verfügung stehen würden. Statt Geld werden Erfahrungen ausgetauscht. Anders als beispielsweise bei Airbnb geht es nicht darum, etwas zu verdienen. Es geht um das sogenannte Social Travelling, also einen anderen Einblick vor Ort zu bekommen als durch Neckermann oder Reiseführer.

Viele Gemeinsamkeiten

Und wenn es einen inoffiziellen Fanclubpräsidenten des Couchsurfings geben würde, dann wäre Stephan Orth ein ziemlich tauglicher Kandidat. Der Wahl-Eimsbüttler war von 2015 an mit seinem Buch „Couchsurfing im Iran“ 70 Wochen lang auf der Bestsellerliste des „Spiegels“. Im vergangenen Jahr legte er dann mit „Couchsurfing in Russland“ nach – und schaffte es rechtzeitig vor der Weltmeisterschaft in Russland direkt wieder mit einer verkauften Auflage von knapp 30.000 Exemplaren.

Anders als manch kritischer Fußballfan freut sich Orth auf das Großereignis. „Es ist zunächst einmal super, dass während der WM die ganze Welt in Russland zu Gast ist und man in gegenseitigen Gesprächen vielleicht merkt, dass man möglicherweise ja doch mehr miteinander gemein hat, als man vorher dachte“, sagt Orth, der in seinem Buch von unzähligen solcher Begegnungen berichtet.

Überbordende Gastfreundschaft: So sieht eine reich gedeckte Tafel aus
Überbordende Gastfreundschaft: So sieht eine reich gedeckte Tafel aus © Gulliver Theis

Die erste Kontaktaufnahme fängt immer mit den Onlineprofilen seiner möglichen Gastgeber an. Da war zum Beispiel Anastasija. 24 Jahre alt, spricht fließend die Kongosprache Lingala. Laut Profil „in seltenen Fällen und zu besonderen Ereignissen kein Feind des Alkohols“. Kann nicht lange still sitzen und mag trotzdem Yoga. Ode Nastja (25), die esoterische Literatur und Cartoons liebt und von sich sagt, sie sei „Liebe. Liebe ist unsere Welt. Die Welt ist Einheit.“

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Auch interessant: Wadim, 29 Jahre alt, der gerne mit „intelligenten Menschen über Themen aller Art spricht“, Kampfsport treibt und Couchsurfing-Gästen beibringen kann, wie man ein russisches Badehaus besucht. In Moskau machte dann aber Genrich (31) das Rennen. Er schreibt auf seinem Profil, dass er sich für A-cappella-Gesang, Linguistik, Kochrezepte, orthodoxen Glauben und Auf-dem-Tisch-Tanzen interessiere. Und in epischer Länge erklärt der Moskauer zudem, warum er bei Couchsurfing-Anfragen niemals den Satz „Ich bin offen, unkompliziert, mag Reisen und freue mich, neue Leute kennenzulernen“ lesen wolle. Dieser Satz sei nur eine kreativlose Art zu sagen: „Ich bin ein fauler Idiot.“

Planeten Russland ins Herz geschlossen

Nun ja. Orths offizielle Anfrage vor seiner Abreise an Genrich: „Ich bin offen, unkompliziert, mag Reisen und ­freue mich, neue Leute kennenzulernen. Hast Du eine Couch für mich?“ Genrich hatte. „Die Idee für die Reise nach Russland kam mir vormittags am 3. März 2014“, erinnert sich der frühere „Spiegel Online“-Redakteur nach seiner Rückkehr beim Gespräch im Schanzenviertel. „Das war der Moment, als Angela Merkels Aussage bekannt wurde, Putin lebe ,in einer anderen Welt‘.

Igor, Marina und
Julija aus Mirny.
Das liegt in der
Republik Jakutien –
Russlands
Fernem Osten
Igor, Marina und Julija aus Mirny. Das liegt in der Republik Jakutien – Russlands Fernem Osten © Stephan Orth

Ich bin schon ein bisschen herumgekommen, aber Ausflüge in fremde Galaxien waren bisher noch nicht dabei.“ Den Planeten Russland hat Orth jedenfalls schnell ins Herz geschlossen – trotz der politischen Gemengelage, die hierzulande WM-Ferien in Russland nicht gerade schmackhaft machen. Trotz – oder vielleicht eher wegen der medialen Einseitigkeit. „Das Bild, das wir über Russland haben, ist genauso verzerrt wie das Bild, das die Russen über uns haben“, sagt der Journalist. „Russland ist genauso wenig das Reich des Bösen, als das es hierzulande manchmal dargestellt wird, wie Deutschland das Chaosland, das russische Propagandamedien gerne bemühen.“

Buch ist frei von Stereotypen

Tatsächlich schafft es Orth auf interessante, informative und vor allem unterhaltsame Art und Weise, in seinem Buch ein Bild von Russland zu zeichnen, das frei von Stereotypen und den üblichen Klischees ist. Das aber gleichzeitig weder Probleme noch Propaganda verschweigt. Auf die Frage, wie er Russland in einem Satz zusammenfassen würde, zitiert Orth Edward Snowden, der dafür sogar nur ein Wort brauchte: „Überraschend“. Überraschend sind aber vor allem die einfachen Dinge, die Stephan Orth in diesem komplizierten Land beobachtet. Die Läden mit der Aufschrift „Zweti24“ zum Beispiel, die im ganzen Land rund um die Uhr Blumensträuße anbieten. Oder die einfachste und beste Erklärung für allerlei Sachverhalte, für die es eigentlich keine rationale Erklärung gibt: „Das ist Russland.“

Und auf die Frage, ob Grosny, die Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, möglicherweise gefährlich sei, erhielt er von einem seiner Gastgeber die simple Antwort: „Sei immer höflich. Fass keine Frauen an. Und trage bloß keine Shorts.“ Orth buchte einen Flug in die Stadt, die bis 2009 von einem schweren Bürgerkrieg gezeichnet wurde. Er war höflich, trug keine Shorts und fasste auch keine Frauen an. Zumindest nicht in Grosny.

Fast nur positive Bekanntschaften

Orth reiste nach Machatschkala im Nordkaukasus, nach Astrachan und Wolgograd in Südrussland, nach Simferopol auf der besetzten Krim und nach Jakaterinburg im Ural. In Sibirien zählte er Birken, in der Republik Altai bestaunte er Sonnenuntergänge und in Elista den größten Buddha Europas. „Russland ist groß, aber vor allem auch ziemlich großartig“, sagt Orth, der auf seiner zehnwöchigen Reise durch Putins Reich fast nur positive Bekanntschaften machte.

Aber eben auch nur fast. Ausgerechnet bei seinem letzten Gastgeber trifft Orth dann doch noch auf einen Russen, der dem Klischee wohl ziemlich nahekommt: Igor, Glatze, Unterhosenträger, Internettroll. Igor sagt, dass Afrika ein Chaosreich sei, in dem nur „Wilde leben. Er glaubt, dass während des Holocaust viel weniger Menschen starben (Quelle: Internet), dass England in 20 Jahren ein Kalifat sei (Quelle: Internet) und vor allem, dass sich viele Menschen zu leicht manipulieren lassen (Quelle: Internet). Einspruch zwecklos. „Kannst du alles googeln“, sagt Igor.

„Couchsurfing in
Russland“ ist im
Malik­Verlag erschienen
und kann
für 16,99 Euro
bestellt werden.
Weitere Infos über
Stephan Orth:
www.stephanorth.de
„Couchsurfing in Russland“ ist im Malik­Verlag erschienen und kann für 16,99 Euro bestellt werden. Weitere Infos über Stephan Orth: www.stephanorth.de © Piper Verlag GmbH | Piper Verlag GmbH

Orths kühler Konter, den er in seinem Buch als Russland-Wahrheit Nummer 21 verkauft: Man sollte mehr reisen, statt am Computer zu sitzen. Wie wahr.

„Natürlich kann ich nach einer Couchsurfing-Reise nicht behaupten, einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft erhoben zu haben“, schränkt Orth ein.

Seine Gastgeber seien überwiegend Menschen aus dem Mittelstand mit überdurchschnittlicher Bildung gewesen, die Interesse am Austausch mit Ausländern hätten. Und eben Igor.

Nirgendwo eine Balalaika

Das häufig verbreitete Bild des Wodka trinkenden Russen, der den Westen verdammt und der alten Weltmacht hinterhertrauert, habe Orth auf seiner Reise allerdings genauso wenig beobachten können wie das Russlandklischee Nummer eins: „Das will mir kaum jemand glauben, aber ich habe in keinem einzigen Wohnzimmer eine Balalaika gesehen.“ Orths Russlandreise auf 248 kurzweiligen Seiten endet schließlich beim Insel-Pfad auf Russkij, am Ufer des Japanischen Meeres. 9300 Kilometer östlich von Moskau – „und doch im selben Land“.

Ach ja, und Russlands Allerwerteste? Diese kleine Ortschaft irgendwo im Nirgendwo zwischen Tschernyschewski, Almasny, Tas-Jurjach und Tschamtscha. Den lokalen Spitznamen hat die offene Mine von Mirny für die Meisterleistung der Ingenieurskunst erhalten, die von oben eine gewisse Ähnlichkeit „mit einer gewissen Körperöffnung“ hat. Orths Mirny-Fazit ist Buchwahrheit Nummer 18: „Ich fühle mich willkommen. Willkommen am Arschloch der Welt.“