Hamburg. Leo Prüßner trainiert als großes Eishockeytalent beim Oberligateam Crocodiles. Dabei hilft ihm die Fähigkeit, in Bildern zu denken.

Um zu ermessen, was ihm Eishockey bedeutet, braucht es nur wenige Minuten des Gesprächs. Ein-Wort-Antworten hat Leo Prüßner sich abgerungen, um über das zu sprechen, was ihm seine Schulkarriere verbaut hat. Doch als es um seinen Sport geht, blüht er auf. „Seit ich als Siebenjähriger zum ersten Mal auf dem Eis stand, wollte ich Eishockeyprofi werden. Das war immer mein Ziel, darauf arbeite ich jetzt hin“, sagt der 16 Jahre alte Angreifer, der seit einem Monat regelmäßig mit den Oberligamännern der Crocodiles Hamburg trainiert, die an diesem Freitag (20 Uhr) zum Gastspiel bei den Hannover Scorpions antreten.

Sein komplexes Verständnis für Spielzüge und die Fähigkeit, diese vorauszuahnen, haben Cheftrainer Herbert Hohenberger davon überzeugt, das Talent aus der Crocodiles-Jugend in den Trainingskader der Herren hochzuziehen. „Der Junge gefällt mir sehr gut, er ist kaltblütig und hat eine tolle Spielübersicht“, sagt der Österreicher. Der Grund dafür klingt kurios: Prüßner ist schwerer Legastheniker und konnte im Schulunterricht nicht mithalten, in dem Lesen und Schreiben Voraussetzung für alles Lernen ist. Seine Intelligenz ist überdurchschnittlich, das wurde getestet. Er kann mittlerweile lesen und schreiben, aber es geht nur langsam. Wer sich damit so schwertut wie er, der kann irgendwann die Lust am Lernen in der Form verlieren, wie sie in deutschen Schulen gefordert wird.

Für Legastheniker typische Begabung

Umso spannender ist die These, die Cornelia Jantzen aufgestellt hat. Die Lern- und Legasthenieberaterin hat 2009 das erste Mal mit Leo Prüßner gearbeitet – und schnell festgestellt, dass der Junge, der als Adoptivkind im Alter von vier Tagen aus den USA nach Deutschland kam, eine für Legastheniker typische Begabung mitbringt. „Leo hat eine unglaublich gute Vorstellungskraft im Raum. Das bedeutet, dass er Dinge von allen Seiten betrachtet. Bei Buchstaben, die man von links nach rechts lesen und schreiben muss, entstehen dadurch Probleme. Aber beim Eis­hockey kann er sich das ganze Spiel vorstellen und deshalb intuitiv schneller handeln als andere“, sagt sie.

Renate Prüßner, Leos Mutter, hatte diese Begabung an ihrem Sohn schon im Kleinkindesalter festgestellt. „Ich habe Leo unendlich viele Bücher vorgelesen und war verblüfft, dass er alles perfekt im Detail erinnern konnte. Was immer er betrachtet – ein Bild, eine Szene, eine Situation – er nimmt jedes Detail wahr, sieht und speichert alle Bilder in seinem Gehirn“, sagt sie. In Bildern anstatt Worten zu denken, das könne vor allem in einer so schnellen Sportart wie Eishockey entscheidende Vorteile bringen, sagt Fachfrau Jantzen: „Das Hirn speichert auf diese Art ganz viele Bilder ab, die es in neuen Situationen dann intuitiv abrufen kann. Dadurch kann Leo möglicherweise schneller als andere reagieren.“

Mehr Muskelmasse aufbauen

Aus der als Schwäche gebrandmarkten Legasthenie, die vererbt wird und in Deutschland rund vier Prozent der Bevölkerung so schwer wie Leo betrifft, ist deshalb eine Stärke erwachsen, die nun ausgebaut werden soll. Vom Schulbesuch ist der Rissener, der in der Spielzeit 2016/17 in 16 Spielen für die U19 des HSV 42 Tore und 22 Vorlagen beisteuerte, befreit, sodass er aktuell seinen gesamten Fokus auf das Ziel, Eishockeyprofi zu werden, ausgerichtet hat. Sein Manko ist seine Physis, bei 177 Zentimetern Körperlänge wiegt er 70 Kilo, was der Grund dafür ist, dass seine Mutter es lieber sähe, wenn ihr Sohn noch nicht mit den Erwachsenen in Wettkampfsituationen ginge.

Trainer Hohenberger will dem Talent Zeit für seine Entwicklung lassen. „Aber wenn wir einen aus der Jugend lizenzieren, dann steht er ganz oben auf der Liste. Ich würde mich nicht scheuen, ihn schon jetzt gegen schwächere Gegner einzusetzen.“ Leo Prüßner sagt, er wolle zunächst mehr Muskelmasse aufbauen und sich an Tempo und Intensität im Herrenbereich gewöhnen. „Aber wenn der Trainer möchte, dass ich spiele, werde ich es machen“, sagt er. Das Leuchten in seinem Gesicht sagt klarer als alle Worte, dass es ihm ernst damit ist.