Schwerin. Vor dem WM-Kampf sprechen Tyron Zeuge und Trainer Jürgen Brähmer über die Folgen des Titels, Schwächen und die Vorbildfunktion.

Zweitjüngster deutscher Boxweltmeister aller Zeiten – diesen Titel trägt Tyron Zeuge, seit er im November 2016 den Italiener Giovanni De Carolis in Runde zwölf ausknockte und sich dessen WBA-WM-Titel im Supermittelgewicht erkämpfte. An diesem Sonnabend (22.50 Uhr/Sat.1) tritt der 24 Jahre alte Berliner nun zur ersten Titelverteidigung an. Gegner in der MBS-Arena von Potsdam ist der Nigerianer Isaac Ekpo (34). Im Interview erklären Zeuge und sein Trainer Jürgen Brähmer (38), was sich durch den Titelgewinn verändert hat und was sie voneinander lernen können.

Hamburger Abendblatt: Herr Zeuge, Ihr Promoter Kalle Sauerland hält Sie für die Zukunft des deutschen Boxens. Sie sind aktuell der einzige deutsche Weltmeister und sollen als Zugpferd für eine ganze Branche dienen. Macht Ihnen so etwas Druck, oder ist es eine Motivation?

Tyron Zeuge: Weder noch. Das Gute ist, dass ich solche Dinge komplett von mir wegschieben kann. Eigentlich ist es mir völlig egal, was von außen gesagt wird. Im Ring will ich meine beste Leistung bringen. Da zählt es nicht, wer der Gegner ist, oder was andere von mir erwarten. Wenn ich nicht fit bin, gibt es auf die Glocke. Nur das ist mein Druck und meine Motivation.

Herr Brähmer, ist Tyron wirklich so cool, dass ihm der Hype um seine Person gar nichts ausmacht?

Jürgen Brähmer: Ja. Die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit beeindruckt ihn gar nicht. Er weiß ja, was er drauf hat. Ich wüsste weltweit keinen Supermittelgewichtler, der ihn schlagen könnte, wenn er sein Potenzial abruft, denn das ist enorm. Das Problem ist, dass er es noch lange nicht ausschöpft.

Dieses Problem besteht ja schon seit Jahren, dass es heißt, Zeuge sei nicht gerade Trainingsweltmeister...

Brähmer: Das stimmt so nicht unbedingt. Seit wir vor einem Jahr die gemeinsame Arbeit aufgenommen haben, hat sich viel getan. Er hat jetzt Grundvoraussetzungen, die er niemals hatte. Der springende Punkt ist, dass ich die Bequemlichkeit aus ihm herauskriegen muss. Ich wusste, dass das schwer werden würde, als ich ihn übernahm. Dass es so schwer werden würde, wusste ich aber nicht.

Herr Zeuge, wird man bequem, wenn man sein großes Ziel erreicht hat?

Zeuge: Ich denke nicht. Ich habe oft gehört, dass es einfacher ist, Weltmeister zu werden, als Weltmeister zu bleiben. Ich möchte aber noch lange Weltmeister bleiben. Deshalb weiß ich, wofür es sich lohnt, hart zu arbeiten.

Warum tun Sie es dann nicht immer?

Zeuge: Weil es wichtig ist, auch mal abzuschalten und sich Pausen zu gönnen. Man kann den Körper nicht unendlich fordern. Und irgendwann hängt einem das Training auch mal zum Hals raus. Dann brauche ich Abwechslung, muss raus in die Natur oder auch mal einfach nichts tun.

Brähmer: Deshalb versuchen wir auch das Training abwechslungsreich zu gestalten, um Ermüdungseffekten durch das immer gleiche Training, wie wir es früher hatten, vorzubeugen. Hier arbeiten wir bei der Trainingsgestaltung mit verschiedenen Experten für die unterschiedlichen Bereiche zusammen. Ich war in der Vergangenheit oft müde durch das Training, sodass ich im Wettkampf mein Potential gar nicht abrufen konnte. Das wollen wir jetzt vermeiden. Man sieht an den Leistungen von Tyron, dass die Umstellung in der Vorbereitung Früchte trägt. Er ist jetzt super in Form, und deshalb geht es auch bergauf.

Herr Brähmer, Sie galten selbst nie als großer Freund des Konditionstrainings. Auch Sie sind ein Typ, den es wenig juckt, was andere über ihn sagen, auch Sie brauchen Ihre Ruhe, um Topleistung zu bringen. Verstehen Sie sich deshalb so gut, weil Sie einander so ähnlich sind?

Brähmer: Ich finde eher, dass wir ganz unterschiedlich sind. Bei Tyron fehlen mir ein paar grundlegende Dinge. Das fängt bei der Lebensabsicherung an. Ich war in seinem Alter viel strukturierter, musste niemandem hinterherlaufen. Da kann Tyron noch eine Menge lernen.

Von Ihnen? Erklären Sie ihm viele Dinge auch außerhalb des Boxrings?

Brähmer: Ich versuche es natürlich, gebe ihm Tipps. Aber ob er sie annehmen will, muss er selber entscheiden. Jeder hat sein eigenes Leben.

Herr Zeuge, wie ist es für Sie, einen Mann wie Brähmer an der Seite zu haben, der auch abseits des Sports sehr viel Lebenserfahrung mitbringt?

Zeuge: Man merkt, dass er selbst noch Boxer ist, denn er weiß genau, was ich brauche, um mich wohlzufühlen. Er sieht, wenn es mir mal nicht so gut geht, und ich kann über alles mit ihm reden. Natürlich versuche ich, mir einiges von ihm abzuschauen und so viel wie möglich mitzunehmen. Aber er hat recht: Jeder hat sein eigenes Leben, und ich bin keiner, der sich verbiegt, nur um anderen zu gefallen.

Können Sie mit dem Begriff Vorbildfunktion etwas anfangen?

Zeuge: Ich hatte nie ein Vorbild, und ich denke, dass ich für Erwachsene keins sein möchte, denn das würde bedeuten, dass ich mich als besonderen Menschen wahrnehmen würde, und das liegt mir fern. Für Kinder allerdings bin ich gern ein Idol. Ich habe es gern, wenn sie mich ansprechen und Fotos mit mir machen wollen. Wenn ich der Grund dafür sein kann, dass Kinder mit Sport anfangen, dann bin ich in dem Sinne gern ein Vorbild. Wichtig ist mir nur, dass ich der bleibe, der ich war und der ich bin.

Das heißt, Sie sind mit Ihrem Image zufrieden?

Zeuge: Was für ein Image? Das ist mir ehrlich gesagt egal. Es gibt Leute, die sehen in mir den Retter des deutschen Boxens, andere können mich nicht ausstehen. Es wird so viel erzählt und geschrieben, aber ich lese nicht jeden Artikel über mich und höre nicht jedem vermeintlichen Experten zu. Ich bin ein ganz normaler Boxer, und das will ich auch bleiben.

Herr Brähmer, ist Tyron ein ganz normaler Boxer? Hat er nicht vielmehr besondere Fähigkeiten, die ihn von der Masse abheben?

Brähmer: Er ist extrem vielseitig, kann eigentlich jede Schlagvariante fast perfekt ausführen. Das können ja heute nicht mehr viele. Mir sagt man ja auch nach, dass ich alle Schläge beherrsche. Vielleicht eint uns das.

Eine Gemeinsamkeit gibt es auf jeden Fall noch: Sie mögen beide nicht Ihre Gegner auf Video studieren. Warum?

Zeuge: Ich gucke generell nicht viel Boxen. Ich gebe nicht viel auf Videoanalyse, weil jeder Gegner ganz anders boxen kann als gegen einen anderen Kontrahenten. Ich muss in der Lage sein, mich spontan auf alles einzustellen, was mir im Ring an Aufgaben gestellt wird.

Herr Brähmer, schauen Sie als Trainer mehr Videos als als Boxer?

Brähmer: Ja, auf jeden Fall. Das gehört schon dazu, um Dinge in die Arbeit einfließen zu lassen, ohne dass der Sportler merkt, dass es eine spezifische Vorbereitung auf den Stil des nächsten Gegners ist.

Was fehlt Tyron neben der nötigen Beharrlichkeit noch für ganz oben?

Brähmer: Als Weltmeister ist man zwar schon ganz oben, dennoch fehlt ihm manchmal dieser Killerinstinkt, Kämpfe zu beenden, wenn der Gegner wackelt. Wobei er ihm nicht fehlt, er hat diese Grundaggressivität. Aber er setzt sie nicht immer ein. Das liegt unter anderem auch daran, dass er sich seiner konditionellen Stärke manchmal gar nicht bewusst ist.

Da waren Sie früher anders. Heute allerdings sind Sie auch vorsichtiger geworden. Ist Ihnen Tyron auf dem Feld vielleicht einfach nur voraus?

Brähmer: Es stimmt, dass ich vorsichtiger geworden bin, weil ich mich nicht verletzen will. Früher bin ich ohne Rücksicht auf Verluste draufgegangen, aber da waren die Gegner auch noch schwächer. Tyron soll nicht blind ins Verderben rennen. Aber er könnte manchmal noch bissiger sein.

Herr Zeuge, was glauben Sie selbst, was Ihnen noch fehlt?

Zeuge: Ganz viel! Ich kann mich überall verbessern. Vor allem aber fehlt mir Erfahrung. Und die Fähigkeit, konstant konzentriert zu arbeiten.

Bereitet Ihnen das Boxen wirklich Freude, oder ist es ein Beruf, den Sie ausüben, um Geld zu verdienen?

Zeuge: Ich habe mein ganzes Leben nichts anderes gemacht als zu boxen. Deshalb ist es für mich mehr als ein Beruf, auch wenn es natürlich bei mir ebenfalls Tage gibt, an denen mir mein Beruf nicht so viel Spaß bereitet. Aber wenn ich zu lange pausiere, fehlt mir das Boxen sehr, dann schlage ich vorm Spiegel ein paar Hände, einfach weil ich nicht anders kann.

Herr Brähmer, macht das Boxen als Trainer mehr Spaß oder als Aktiver?

Brähmer: Momentan noch beides auf gleichem Level. Wenn ich mit meinen Jungs trainiere und merke, dass ich ihnen noch einheizen kann, dann ist das eine schöne Bestätigung und Motivation. Aber die Trainerarbeit macht mir auch viel Spaß, sie ist vielseitiger.

Zum Abschluss eine Frage an Sie beide: Wird Tyron Zeuge in den kommenden zehn Jahren seine Gewichtsklasse dominieren?

Zeuge: Zehn Jahre? Ich denke momentan nur bis zum nächsten Kampf, deshalb sind für mich solche Gedankenspiele gar kein Thema.

Brähmer: Tyron ist eine Wundertüte. Er hat definitiv das Potenzial dazu, auf Jahre einer der ganz Großen in seiner Gewichtsklasse zu bleiben. Ebenso gut kann es aber auch sein, dass er in zwei Jahren die Lust am Boxen verloren hat. Es liegt an ihm. Ich erwarte aber, dass er am Sonnabend gegen Ekpo ein Ausrufezeichen setzt und ihn aus dem Ring fegt. Ich will, dass jeder sieht, wie gut er ist und wie sehr er sich entwickelt hat. Er soll sich mit einer Topleistung für die harte Arbeit belohnen. Alles Weitere kommt dann von allein.