Marseille. Der Mittelfeldspieler war die tragische Figur beim Halbfinalaus. Nach dem Spiel deutete er seinen Rücktritt aus dem Nationalteam an.

Der Mann, auf den alle warten, kommt um kurz nach Mitternacht als Letzter aus der deutschen Kabine. Bastian Schweinsteiger sieht müde aus. Leer. Genervt. Und vor allem enttäuscht. Wie ein Bodyguard schirmt ein Mitarbeiter der DFB-Pressestelle den blassen Kapitän der deutschen Nationalmannschaft in den Katakomben des Stade Velodrome vor den zahlreichen Kameras, Mikrofonen und Aufnahmegeräten ab. An einer Stelle, an der ein ganzer Pulk von Medienvertretern wartet, halten Schweinsteiger und sein Sicherheitschef. „Drei Fragen“, sagt der Bodyguard. „Mehr nicht.“

Eine gute Stunde zuvor hatte Schweinsteiger gegen EM-Gastgeber Frankreich sein 120. Länderspiel absolviert. Nur drei Deutsche – Lothar Matthäus (150), Miroslav Klose (137) und Lukas Podolski (129) – haben mehr. Der 31 Jahre alte Haudegen von Manchester United stand in 38 EM- und WM-Spielen auf dem Platz – Europarekord. Er war bei sechs Turnier-Halbfinalspielen dabei, stand in zwei Endspielen von Anfang an auf dem Rasen. Und jetzt, um kurz nach Mitternacht, soll diese epische Karriere in drei Fragen im Keller des Stadions in Marseille zusammengefasst werden?

Die erste Frage: Wie konnte das Handspiel passieren, das ein bis dahin tolles EM-Halbfinale kippen ließ? Schweinsteiger zögert nur kurz. Dann sagt er: „Der Ball war anders als sonst bei einer Ecke gespielt.“ Im Kopfballduell mit Patrice Evra war Schweinsteigers Hand in der angesprochenen Szene zum Ball gegangen, was laut Regelwerk zweifelsohne einen Strafstoß nach sich zieht. „Ich weiß nicht, ob Sie schon mal Fußball gespielt haben“, sagt Schweinsteiger zum Fragesteller. „Man kann nur schwer erklären, wieso das passiert. Aber mit Reaktion und Reflexen passiert so etwas eben. Und es passiert in einem Moment, in dem wir klar die bessere Mannschaft waren.“

Deutschland kassiert bitteres Halbfinal-Aus gegen Frankreich

Jérôme Boateng muss ausgewechselt werden
Jérôme Boateng muss ausgewechselt werden © REUTERS | Michael Dalder
Antoine Griezmann feiert seinen Treffer per Elfmeter
Antoine Griezmann feiert seinen Treffer per Elfmeter © REUTERS | Kai Pfaffenbach
Julian Draxler foult Moussa Sissoko
Julian Draxler foult Moussa Sissoko © REUTERS | ERIC GAILLARD
Manuel Neuer (v.l.), Jérôme Boateng und Benedikt Höwedes
Manuel Neuer (v.l.), Jérôme Boateng und Benedikt Höwedes © dpa | Federico Gambarini
Den Elfmeter hatte Bastian Schweinsteiger durch ein Handspiel verschuldet
Den Elfmeter hatte Bastian Schweinsteiger durch ein Handspiel verschuldet © REUTERS | Michael Dalder
Und war sich keiner Schuld bewusst
Und war sich keiner Schuld bewusst © Getty Images | Matthias Hangst
Verbissen: Joshua Kimmich und Dimitri Payet
Verbissen: Joshua Kimmich und Dimitri Payet © dpa | Christian Charisius
Olivier Giroud und Bastian Schweinsteiger
Olivier Giroud und Bastian Schweinsteiger © Getty Images | Lars Baron
Frankreichs Trainer Didier Deschamps
Frankreichs Trainer Didier Deschamps © Getty Images | Alex Livesey
Das Stadion in Marseille
Das Stadion in Marseille © Getty Images | Laurence Griffiths
Olivier Giroud und Bastian Schweinsteiger
Olivier Giroud und Bastian Schweinsteiger © WITTERS | TimGroothuis
Klein, aber fein: Antoine Griezmann und Mesut Özil
Klein, aber fein: Antoine Griezmann und Mesut Özil © WITTERS | TimGroothuis
Ein Überbleibsel von Island. Ein
Ein Überbleibsel von Island. Ein "Huh" geht durch das Stadion © dpa | Oliver Weiken
Ein entspannter Joachim Löw vor dem Spiel
Ein entspannter Joachim Löw vor dem Spiel © dpa | Federico Gambarini
Das ist eine Ansage:
Das ist eine Ansage: "Unser Land - Unser Pokal" © dpa | Arne Dedert
Deutscher Fan am Strand, sonnenbaden vor dem Frankreich-Spiel
Deutscher Fan am Strand, sonnenbaden vor dem Frankreich-Spiel © dpa | Federico Gambarini
So war es 2014 bei der WM in Brasilien: Deutschland gewann durch ein Kopfballtor von Mats Hummels, der diesmal gesperrt ist
So war es 2014 bei der WM in Brasilien: Deutschland gewann durch ein Kopfballtor von Mats Hummels, der diesmal gesperrt ist © WITTERS | NiklasLarsson
Deutsche Fans in Frankreich
Deutsche Fans in Frankreich © dpa | Caroline Blumberg
Sehnsuchtsort Paris, wo das Finale der EM 2016 stattfindet: Bundestrainer Joachim Löw, fotografiert vor einem Paris-Schild
Sehnsuchtsort Paris, wo das Finale der EM 2016 stattfindet: Bundestrainer Joachim Löw, fotografiert vor einem Paris-Schild © dpa | Arne Dedert
Ein französischer Fan bereitet sich auf das Deutschland-Spiel vor
Ein französischer Fan bereitet sich auf das Deutschland-Spiel vor © Getty Images | Tullio M. Puglia
Thomas Müller vor dem Spiel beim Rasen-Check: Er blieb erneut ohne EM-Tor
Thomas Müller vor dem Spiel beim Rasen-Check: Er blieb erneut ohne EM-Tor © dpa | Federico Gambarini
Ein deutscher Fan in Marseille
Ein deutscher Fan in Marseille © Getty Images | Tullio M. Puglia
Neue Aufgabe? Bundestrainer Joachim Löw versucht sich als Dirigent
Neue Aufgabe? Bundestrainer Joachim Löw versucht sich als Dirigent © WITTERS | TimGroothuis
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Es gehört zur Besonderheit des Fußballs, dass sich in nur einem einzigen Moment alles um 180 Grad drehen kann. „Die Franzosen wussten gar nicht, wie sie überhaupt in Führung gegangen waren“, sagte Angreifer Thomas Müller. „Das ist so bitter.“ Ein Sprung, eine falsche Bewegung, ein Pfiff. „Ich kann nicht erklären, wie die Hand da hochkommt“, sagt Schwein­steiger. „Der Gedanke sagt: Du willst das irgendwie abwehren. Und dann geht die Hand eben hoch.“

Bei der EM 2004 begann seine Ära im Nationalteam

Schweinsteiger war schon als 19-Jähriger dabei, als die Mannschaft noch nicht „Die Mannschaft“ hieß und bei der EM 2004 in Portugal unter die Räder geriet. Zwei Jahre später war der Mittelfeldmann eines der Aushängeschilder der Generation Sommermärchen. Der Bayer brillierte bei der WM 2010, schleppte sich durch die EM 2012 und erkämpfte 2014 den WM-Titel in Brasilien. 2016 war Schwein­steiger erstmals bei einem Turnier Deutschlands Kapitän. Das alles ist in der Gegenwart von Marseille Vergangenheit. Es ist die Zukunft, die interessiert.

„Die Zukunft ist immer spannend“, sagte Oliver Bierhoff, der 20 Minuten vor Schweinsteiger durch den Bauch des Velodromes spazierte. „Wir haben mit Basti darüber noch nicht gesprochen. Jeder braucht zunächst Abstand. Dann sehen wir weiter.“ Doch der passende Abstand fällt nicht immer leicht. Trotz seines eigenen Presse-Bodyguards wächst die Menschentraube um den grauen Schweinsteiger zunehmend an. Zum Elfmeter, dem unglücklichen Handspiel und den Konsequenzen ist alles gesagt. Nun ist der Zeitpunkt für die zweite Frage gekommen. Die Frage, auf die alle gewartet haben: „Wenn wir nur drei Fragen haben“, sagt ein Mutiger, „dann muss ich Sie nun ganz direkt fragen: War das heute Ihr letztes Spiel in der Nationalmannschaft?“

Oft wird davon gesprochen, dass ein paar Sekunden auf dem Fußballplatz einem wie eine Ewigkeit vorkommen können. Der letzte Angriff in der Nachspielzeit, der Anlauf zum entscheidenden Schuss im Elfmeterschießen, die Torwartparade in der 94. Minute. Der Moment zwischen Frage und Antwort am späten Donnerstagabend dauert neun Sekunden. Es ist eine neun Sekunden lange Ewigkeit.

Als Schweinsteiger endlich zu sich gekommen ist, wird seine Stimme leise. „Ich habe da noch nicht drüber nachgedacht“, sagt schließlich Deutschlands ältester Nationalspieler, in dessen Rücken in diesem Moment Lukas Podolski freundlich grüßend vorbeiläuft. Der zweite Teil der Sommermärchen-Combo, erneut mit einer rot-weißen FC-Köln-Mütze dekoriert, überrascht später mit dem Bekenntnis, „auf jeden Fall“ weitermachen zu wollen. „Ich stehe voll im Saft“, sagt der Poldi „und ich muss mich vor keinem verstecken.“

Schweinsteiger scheint sich in diesem Moment sehr wohl verstecken zu wollen: „Ich habe bewusst meine ganze Energie in dieses Turnier reingelegt“, sagt er leise. „Nach den zwei Verletzungen war das nicht so einfach. Jetzt muss ich auch erstmal das Ausscheiden verkraften.“ Man könnte jetzt eine Stecknadel in der vollen Mixedzone des Velodrome fallen hören. Schwein­steigers Stimme wird plötzlich noch leiser: „Natürlich ist es sehr enttäuschend, so auszuscheiden.“ Wieder eine dramatische Pause. „Doch der Weg der Mannschaft geht auf jeden Fall weiter.“ Eine letzte Pause, dann wiederholt er: „Ich persönlich muss jetzt erst einmal Abstand gewinnen.“

Nun ist es endgültig still. Erneut vergehen ein paar Sekunden, dann er-greift Schweinsteiger noch ein letztes Mal an diesem Abend das Wort: „War es das jetzt?“, fragt er – und geht. Eine dritte Frage stellt keiner mehr.