Hamburg. Vor der Titelverteidigung am Sonnabend macht sich der Weltmeister Jürgen Brähmer Gedanken über die Zukunft.

Wer die Gabe hat, auch in fortschreitendem Alter die Dinge neu bewerten zu können, der hat die Gewissheit, nicht stillzustehen. Stillstand bedeutet ja Rückschritt, und wer wie der Profiboxweltmeister Jürgen Brähmer noch Ziele hat für die sportliche Karriere und vor allem das Leben danach, der sollte Stillstand zu verhindern wissen. Kürzlich hat der 37-Jährige festgestellt, dass sein Respekt vor Erziehern und Lehrern immens gewachsen ist. „Die haben eine unglaubliche Verantwortung für die Gesellschaft und sind dafür massiv unterbezahlt. Früher war mir das nicht so bewusst, aber heute habe ich größten Respekt davor“, sagt der Schweriner, der an diesem Sonnabend (22.30 Uhr/Sat.1) in Neubrandenburg seinen WBA-WM-Titel gegen Eduard Gutknecht vom Berliner Wiking-Boxteam verteidigt.

Dieses Bewusstsein, das bei einem meinungsstarken Menschen wie Brähmer aber eher mit Lebenserfahrung als mit Altersmilde erklärt werden kann, mag seinen Ursprung in der Tatsache haben, dass der Halbschwergewichtler aus dem Berliner Sauerland-Team als Vater einer fast vierjährigen Tochter und eines 15 Monaten alten Sohnes mit dem Thema Erziehung stärker befasst ist als in seiner Sturm-und-Drang-Zeit. Vielleicht liegt die neue Sicht auf Ausbilder aber auch darin begründet, dass Brähmer sich längst Gedanken über die Zeit nach seiner aktiven Karriere macht. Und da ist für ihn der Schritt in ein Dasein als Trainer und Promoter eine mehr als interessante Alternative.

„Ich habe schon einige Anfragen erhalten und kann mir durchaus vorstellen, Sportler zu entwickeln, wenn ich die dazu nötige Zeit habe“, sagt Brähmer. Ende vergangenen Jahres hatte er aufhorchen lassen, als er nach der Absage eines im November in Monaco geplanten Duells mit dem Südafrikaner Thomas Oosthuizen vom österreichischen Verband zurück zum Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) wechselte und dort zusätzlich eine Promoterlizenz erwarb. Zeitgleich wurde bekannt, dass Sauerlands Toptalent Tyron Zeuge aus Berlin nach Schwerin wechseln und dort mit Brähmer trainieren wollte.

Wer den Geschäftsmann Brähmer kennt, der auch mit Immobilien handelt und sich in seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern ein beeindruckendes berufliches Netzwerk geknüpft hat, den überrascht kaum, dass der Boxer selbst diese Vorgänge herunterspielt. Weder plane er, Sauerland mit einem eigenen Stall Konkurrenz zu machen und die besten Talente abzujagen, noch seine Kämpfe in Eigenregie zu vermarkten. „Darauf hatte ich noch nie Lust, weil ich denke, dass man sich mit voller Kraft auf eine Sache konzentrieren sollte“, sagt er. Mit Sauerland Event habe er einen guten Vertragspartner. „Es ist ein Vertrag auf Augenhöhe, der sehr fair und für beide Seiten optimal ist“, sagt er.

Wer Brähmer im Training beobachtet, der kann feststellen, dass nicht nur die Form stimmt, sondern vor allem auch die Einstellung zum Beruf. Er war immer ein Mensch, der Lust haben musste zu dem, was er tat, um Leistung zu bringen. „Wenn ich merke, wie ich mich vom Start der Vorbereitung bis zum Kampf steigern kann, ist das wie eine Sucht“, sagt er. Und genau diese Sucht genießt er nun; weil er es kann, und nicht, weil er es muss.

Angst vorm Aufhören habe er überhaupt nicht. „Ich habe eine solide Basis und viele Alternativen für die Zukunft. Es gibt viele Dinge, die mich interessieren. Die meisten, die den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpassen, tun das ja nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie es mangels Alternative müssen“, sagt er.

Kein Geheimnis ist, dass Ehefrau Tatjana es gern sähe, wenn das Ende des Boxers Brähmer nahte. Aber so, wie es momentan aussieht, muss sie noch etwas warten, denn der 50. Profikampf, zu dem am Sonnabend eine Reihe langjähriger Weggefährten Brähmers Einladung ins Jahnsportforum folgt, soll definitiv nicht der letzte sein. Auch wenn der gebürtige Stralsunder die Anfrage aus dem olympischen Lager, ob er bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro im August für Deutschland starten wolle, mit Hinweis darauf ablehnte, er wolle aufstrebenden Talenten nicht die Entwicklung blockieren: Große Kämpfe plant er notfalls auch ganz ohne die Aussicht auf Medaillen oder Titel.

„Mir sind Titel nicht so wichtig.“, sagt er. Viel wichtiger sei ihm, seinen Fans die bestmöglichen Kämpfe in Deutschland zu bieten, die zu realisieren sind. Deshalb glaubt er auch, dass der Rückkampf mit Gutknecht, den er im Februar 2013 einstimmig nach Punkten besiegt hatte, mehr Brisanz birgt als das abgesagte Treffen mit Oosthuizen. „Oosthuizen war in Deutschland nicht so bekannt. Eddy hat in Deutschland nicht nur durch das erste Duell mit mir einen Bekanntheitsgrad.“

Ein Duell mit Felix Sturm wäre Brähmer lieber als Titelvereinigungen in den USA

Ein deutsches Duell mit WBA-Supermittelgewichtschampion Felix Sturm, das Brähmer in der vergangenen Woche angeregt hatte, würde er Titelvereinigungen mit WBC-Weltmeister Adonis Stevenson oder Halbschwergewichts-Topstar Sergej Kovalev (IBF/WBO/WBA Super) in den USA vorziehen. „Wen interessiert es denn, wenn ich in Amerika boxe?“, fragt er. Für einen solchen Kampf müsse das Gesamtpaket stimmen. „Aber bislang war das alles nur leeres Gerede.“

Eine Sache gibt es indes, die Jürgen Brähmer zum Aufhören verleiten könnte. Seine Tochter weiß bislang nicht, dass der Vater professionell boxt, und er weiß aktuell auch nicht, wie er es ihr erklären sollte, „was der Papa da oben im Ring macht.“ Er könnte es natürlich den Erzieherinnen im Kindergarten überlassen. Aber lieber ist ihm, eine Lösung zu finden, mit der er auch sich selbst wieder einmal überrascht.