Ein Fußball-Länderspiel für Freiheit und Demokratie
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Von Alexander Laux
Hannover. Das Länderspiel zwischen der deutschen Nationalmannschaft und den Niederlanden soll zum Symbol des Zusammenhalts in Europa werden.
Auf dem Kröpcke, dem zentralen Platz in der Innenstadt, sind Bauarbeiter am Montagvormittag damit beschäftigt, eine überdimensionale Weihnachtspyramide mit mannsgroßen Figuren aufzubauen. Fast unbemerkt von den vorbeihastenden Geschäftsleuten und wenigen Einkaufslustigen steht da ein Mann mit seiner Oboe. „Schau’ mich bitte nicht so an“, spielt der Straßenmusikant, den früheren Hit der französischen Sängerin Mireille Mathieu. Eigentlich ein Liebeslied, aber melancholisch vorgetragen. Traurig.
Eine Szene, fast schon so kitschig, dass man sie sich nicht hätte ausdenken können drei Tage nach den Terroranschlägen in Paris. Das Leben scheint nur oberflächlich wieder in die Alltagsspur einzubiegen. „Paris“, „Standpunkt vertreten“, „Zeichen setzen“, diese Wortfetzen von Passanten sind zu hören, wenn man sich nur fünf Minuten in die Fußgängerzone stellt. Als um zwölf Uhr die Menschen mit einer Schweigeminute den Opfern gedenken sollen, stellen Cafés die Musik ab, zum Innehalten und Nachdenken.
Terror: Reaktionen von Nationalspielern
Bastian Schweinsteiger
„Ich bin immer noch fassungslos darüber, was am Freitag passiert ist. Ich möchte allen, die von dieser Tragödie betroffen sind, mein tiefstes Mitgefühl aussprechen. Zusätzlich möchte ich aller Opfer in Beirut gedenken, die bei den Anschlägen am Tag zuvor ums Leben gekommen sind. Egal, aus welchem Teil der Erde man kommt oder welcher Religion man angehört - wir sind vereint.“
Mats Hummels
„Zurück in Deutschland. Unglaublich, was gestern passiert ist. Diese Welt ist jetzt wirklich beschissen. Meine Gedanken sind bei denjenigen, die einen geliebten Menschen verloren haben.“
Ilkay Gündogan
„Wir sind sicher angekommen. Nach einer schockierenden Nacht sind unsere Gedanken bei all den Leuten, die von den Attacken betroffen sind.“
André Schürrle
„Was für eine schreckliche Nacht. Meine Gedanken sind bei den Familien, die ihre Liebsten verloren haben.“
Mario Götze
„Unglaublich - was für eine Tragödie. Meine Gebete gelten den Opfern und ihren Familien.“
Toni Kroos
„Was ist das für eine kranke Welt?“
Antonio Rüdiger
„Wir sind gesund zurück, aber was bleibt, ist ein Schock und die Trauer über all die Opfer und ihre Familien.“
Bernd Leno
„Wir sind daheim gesund angekommen und können nun zu unseren Familien. Meine Gedanken sind aber bei den Opfern und deren Familien.“
Jerome Boateng
„Meine Gebete gehen an die Opfer und ihre Familien. Mein tiefstes Mitgefühl an jeden, der von den Attacken gestern in Paris betroffen war.“
Matthias Ginter
„Froh und dankbar, dass wir gesund in Deutschland angekommen sind. In Gedanken bei den Angehörigen.“
Lassana Diarra (seine Cousine starb bei den Anschlägen)
„In diesem Klima des Terrors ist es für uns alle wichtig, die wir dieses Land mit seiner Vielfältigkeit repräsentieren, das Wort zu ergreifen und vereint zu bleiben gegen einen Horror, der weder Farbe noch Religion hat. Lasst uns alle zusammen die Liebe verteidigen, den Respekt und den Frieden.“
Paul Pogba
„Das ist kein Angriff auf Paris, das ist eine weitere Attacke auf die Menschheit. Menschen aus einigen Religionen und Ländern hassen die Freiheit und die Werte des Westens. Sie wollen herkommen, um andere Menschen zu töten. Diese Terroristen werden wir besiegen. Die Kraft der Franzosen und der ganzen Welt muss steigen. Steht auf und sagt nein zu diesen Terroristen und Religionen. Baut keinen Hass auf, seid gute Menschen und verändert die Welt positiv.“
Antoine Griezmann
„In Gedenken an die Opfer der Attacken. Ich danke Gott, dass es meine Schwester rechtzeitig aus dem Bataclan geschafft hat. Meine Gebete gelten den Opfern und ihren Familien.“
Laurent Koscielny
„Keine Worte. So traurig. Beten.“
Raphael Varane
„Ein beängstigender Abend. Ich gedenke all den Opfern und ihren Familien.“
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Im Fanshop von Hannover 96 nebenan in der Rathenaustraße ist schon ordentlich Betrieb. „Die Nachfrage für das Länderspiel hat angezogen“, sagt eine Verkäuferin. 300 Meter weiter wirbt der Fanbus der deutschen Nationalmannschaft für dasLänderspiel am Dienstag gegen die Niederlande(20.45 Uhr/ZDF) und verteilt Gutscheine. 25 statt 50 Euro für eine Eintrittskarte, wenn man in den Fanclub der Nationalmannschaft eintritt. Am Sonnabend kamen nur einige Menschen, die ihr Ticket zurückgeben wollten. Aber das ist die Minderheit. Ein Ehepaar aus Hildesheim verlässt gerade zufrieden den Laden. „80 Euro inklusive Rentnerrabatt pro Karte“, freut sich der Mann und sagt augenzwinkernd: „Direkt über der Angela, Block O3 auf der Haupttribüne. Wir werden auf sie aufpassen.“ Zum Abschied beruhigt die Fanshop-Angestellte noch: „Das Stadion ist doch am Dienstag der sicherste Ort, den man sich vorstellen kann. Ein Hochsicherheitstrakt.“
An der HDI-Arena herrscht ruhige Betriebsamkeit am Tag vor dem Spiel. Polizei? Oder sogar Militär? Fehlanzeige. Nichts zu sehen. Zu erfahren ist aber, dass die Beamten kurzfristig im Stadion eine ausführliche Sicherheitsbegehung angesetzt haben. „Ich habe keine Bedenken“, sagt Ingo Cramer, der Leiter des Stadionfanshops, fast trotzig. „Seien wir ehrlich: Es kann doch überall etwas passieren. Wir erledigen hier ganz normal unseren Job.“
Frankreich gegen Deutschland
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An Tor 3, bei der Einlasskontrolle, sitzt Michael G. Ohne Ausweis darf niemand den Stadionbereich betreten, das gilt vor allen Spielen. „Aber es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, ein normaler Spieltag wird das nicht“, glaubt er.
Kurz darauf bestätigt der Polizeipräsident von Hannover, Volker Kluwe, dass sowohl am Stadion als auch in der Stadt und der Region Hannover am Dienstag deutlich mehr Polizisten eingesetzt werden als bei einem normalen Fußballspiel. Die Beamten seien auch mit Maschinenpistolen bewaffnet. Für eine erhöhte Gefahrenlage gebe es derzeit keine Hinweise. Genaue Angaben über das Aufgebot werden nicht gemacht. Auch das Teamquartier, das Sporthotel Fuchsbachtal in Barsinghausen, ist noch extremer gesichert. Spürhunde suchen vor dem Eintreffen der Spieler nach Gefahrenquellen.
Um 13 Uhr haben Joachim Löw und Oliver Bierhoff ins Rittergut Eckerde 1 bei Barsinghausen geladen. In dem Veranstaltungsraum, einem umgebauten Kuhstall, versuchen Bundestrainer und Teammanager die Bedeutung des Länderspiels herauszuarbeiten. „Die sonstige sportliche Rivalität zwischen beiden Nationen sollte an diesem Abend in den Hintergrund rücken. Dieses Länderspiel hat eine klare Botschaft und ein Symbol – für Freiheit und Demokratie. Wir wollen die Trauer und Solidarität mit unseren französischen Freunden in Europa und in der ganzen Welt ausdrücken“, sagt Löw. „Wenn wir es schaffen, das Spiel in den Kontext dieser Werte zu verstehen, dann haben wir unabhängig vom Ergebnis gewonnen.“
Chronologie des DFB-Trips nach Paris
10.00 Uhr
Alle Spieler und Betreuer müssen am Freitag das noble Teamhotel Molitor im Südwesten der Stadt verlassen. Eine Bombendrohung ist eingegangen. Teammanager Oliver Bierhoff eilt von einem Sponsorentermin zurück zur Mannschaft.
12.00 Uhr
Bastian Schweinsteiger und Co. müssen sich die Zeit auf der Tennisanlage von Roland Garros vertreiben. Tennisspielen dürfen sie nicht. Währenddessen kommen im Teamhotel Spürhunde zum Einsatz. Sie finden - zum Glück - nichts.
13.30 Uhr
Die Polizei gibt Entwarnung. Als erster darf Holger Stromberg zurück. Der Koch soll das verspätete Mittagessen vorbereiten. Kurz darauf folgt die Mannschaft. Nach einer Ansprache von Joachim Löw wird das Team zu Tisch gebeten.
14.00 Uhr
Bierhoff spricht vor dem Hotel zur Presse. Der Teammanager berichtet von einem „großen Schreck“. Die Vorbereitung auf das Länderspiel sei gestört. Ein Alibi dürfe die Bombendrohung aber nicht liefern. „Wir sind erleichtert, dass die Sache geklärt ist“, sagte Bierhoff - nicht ahnend, was am Abend folgen sollte.
14.30 Uhr
Im Teamhotel tagt die DFB-Interimsspitze. Mehrere Stunden beraten die neuen Chefs Rainer Koch und Reinhard Rauball sowie Schatzmeister Reinhard Grindel und Generalsekretär Helmut Sandrock über die künftige Aufgabenverteilung im Verband.
19.00 Uhr
Abfahrt zum Stadion. Im schwarzen Weltmeisterbus machen sich Löw und seine Spieler auf den Weg zum Stade de France. Die Vorbereitung mit Störfaktor muss nun vergessen sein. Jetzt zählt nur noch die Konzentration für den sportlichen EM-Testlauf.
21.00 Uhr
Die Hymnen sind gespielt, die Partie beginnt. Das Stade de France ist mit fast 80 000 Zuschauern besetzt. Es herrscht ein Vorgeschmack auf die erhoffte Stimmung im kommenden EM-Sommer.
21.20 Uhr
Ein lauter Knall ertönt hinter der Gegengeraden. Erstmal ist unklar, was das gewesen sein könnte. Die Spieler sprechen laut Rauball von Druckwellen, die man auf der Ersatzbank habe spüren können.
21.26 Uhr
Schon wieder dieser ohrenbetäubende Lärm. Spätestens jetzt beschleicht viele im Stadion ein mulmiges Gefühl. Was ist da los vor der Arena? Das Spiel geht aber unbeeinflusst bis zur Halbzeit weiter.
22.15 Uhr
Die Nachricht von den Schießereien in der Stadt und den Explosionen vor der Arena erreichen die Zuschauer. Auch die Bilder von Präsident Francois Hollande auf dem Weg hinaus sorgen für Unruhe.
22.50 Uhr
Das Spiel ist vorbei. Tausende Zuschauer werden auf den Rasen geleitet. Mit großer Bedacht agieren die Ordner. Nur kurz kommt es zur Unruhe an manchen Ausgängen. Bis alle Zuschauer das Stade de France verlassen können, vergehen Stunden.
23.15 Uhr
In den Katakomben herrscht eine gespenstische Stimmung. Alle sonst üblichen Medienaktivitäten wie die Pressekonferenz sind abgesagt. Die Mannschaft bleibt in der Kabine. Wie lange, ist unklar. „Wir sind alle erschüttert und schockiert. Für mich tritt der Sport in den Hintergrund“, sagt Bundestrainer Löw.
2.00 Uhr
Das Warten im Stadion wird zur Geduldsprobe. Angeblich sollen die deutschen Spieler mit Kleinbussen zum Hotel gebracht werden. Doch auch das ist zu riskant. Bierhoff und Rauball erklären später die Entscheidung: Der Verbleib in der Arena ist alternativlos.
3.30 Uhr
Das Krisenmanagement läuft. DFB-Interimschef Rauball telefoniert unter anderem mit Innenminister Thomas de Maiziere. Das Ziel: Die Mannschaft soll so schnell wie möglich in die Heimat gebracht werden.
6.30 Uhr
Eine Nacht in der Umkleide geht für Schweinsteiger und Co. endlich zu Ende. Die DFB-Eskorte bricht unter Polizeischutz Richtung Flughafen auf. Rauball lobt die Mannschaft: „Man kann stolz sein, wie sie diese Nacht überwunden hat.“
8.00 Uhr
Die Lufthansa-Maschine steht auf dem Rollfeld ganz weit abseits des Flughafengebäudes bereit - bewacht von Polizisten mit Maschinengewehren. Die Spieler plumpsen in ihre Sitze. Bis zum Start vergeht aber noch eine Stunde.
9.00 Uhr
Nun sind auch Fans, Sponsoren und Journalisten an Bord. Die Maschine hebt in den Pariser Morgenhimmel ab. Auf dem Flug wird bekannt, dass Löw seine Spieler mindestens für eine Nacht nach Hause schickt. Über das Holland-Spiel soll später entschieden werden.
10.00 Uhr
Die Landung am Samstagmorgen in Frankfurt weckt die erschöpften Spieler aus einem kurzen Schlaf. Die Erleichterung ist bei Lukas Podolski und Co. spürbar. Ihre schwierigste Länderspielreise nimmt am DFB-Stammsitz in Frankfurt ein Ende.
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Der Fußballtrainer wirkt noch immer tief betroffen, emotional aufgewühlt. Der schwarze Pullover scheint die dunklen Schatten unter seinen Augen noch zu betonen. Offen beschreibt Löw, wie er nach der Ankunft in Frankfurt noch geglaubt hatte, dass das Spiel abgesagt werden müsse. „Aber mit einer Nacht Abstand war uns allen klar, dass wir ein Zeichen setzen und dieses Spiel mit voller Überzeugung angehen wollen.“ Vom Publikum erhofft sich der Bundestrainer einen sensiblen Umgang: „Die La Ola, Gesänge oder Partystimmung sind sicher nicht angebracht. Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen im Stadion eine Einheit bilden, Zusammenhalt demonstrieren.“
Bierhoff schildert, dass die Nationalmannschaft eine Fülle an Mails erreicht habe mit Vorschlägen für mögliche Aktionen: „Das ging vom gemeinsamen Singen der französischen Hymne bis zum Tragen der Trikots der Equipe tricolore.“ Der DFB werde, so Bierhoff weiter, die Symbolik des Spiels mit entsprechenden Maßnahmen aufgreifen. Welche das sein werden, dazu bedarf es am Montag noch einiger Gespräche. Fest steht nur, dass eine Lichterkette am Stadion geplant ist, zu der die Stadt, die Kirchen und weitere Religionsgemeinschaften aufgerufen haben.
So zeigt sich Paris nach dem Terror
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Gesprochen wird bis zum Abend auch ausgiebig mit den Spielern. Am Nachmittag tauscht sich Löw mit dem Teampsychologen Hans-Dieter Hermann aus, schließlich müssen Betreuer und Fußballer einen Spagat hinbekommen: sich der Vorbildfunktion, nicht nur in Deutschland, bewusst zu sein und dennoch professionell und konzentriert in die Partie zu gehen. „Ich weiß nicht, ob das jedem Spieler gelingen wird“, gibt Löw zu.
Dass nach der Nacht des Terrors auch für den Sport nichts mehr ist wie vorher, ist auch Bierhoff klar: „Dieses Spiel wird kein einmaliges Event bleiben. Der Fußball mit seinen vielen Vereinen ist gefordert, seinen Beitrag bei den Themen Flüchtlinge und Integration zu leisten.“ Und welche integrative Kraft der Fußball hat, das wird das Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden eindrucksvoll zeigen. Ganz sicher.