Der Weltmeister präsentiert sich wie ein Boxer ohne Knock-out-Qualität. Für Löw sind die Außenpositionen ein Grund für die Torarmut.

Kurz vor Mitternacht fehlte nur noch einer. „Kommt der Marco noch?“, lautete die Frage an den DFB-Betreuer, der noch einmal in der Kabine nachschaute und mit der abschlägigen Nachricht zurückkehrte: „Noch zur Behandlung.“ Man muss dazu wissen: Angeschlagene Spieler sind von der Pflicht ausgenommen, nach Spielende den Frage-Antwort-Parcours bei den Journalisten zu absolvieren. So richtig übel nehmen konnte man Marco Reus den ausgespielten „Verletzungs-Joker“ aber nicht. Was hätte es auch für ihn gebracht, den Frust über die vergebenen Großchancen noch einmal abzurufen und zu erklären, warum er vor dem Tor wie ein Springpferd vor einem Hindernis bockte?

Unterhaltsam und unerwartet spannend war die EM-Qualifikation der deutschen Fußball-Nationalmannschaft mit dem 2:1 gegen Georgien zu Ende gegangen, aber wirklich glücklich und zufrieden war danach niemand. Im Gegenteil. „Ich habe schlechte Laune“, grummelte Jerome Boateng, „so, wie wir heute gespielt haben, brauchen wir nicht bei der EM antreten. Man muss schon Klartext reden.“

Deutschland fährt zur EM! Kruse gelingt erlösender Treffer

Max Kruse erzielte mit seiner ersten Ballberührung den erlösenden 2:1-Siegtreffer gegen Georgien
Max Kruse erzielte mit seiner ersten Ballberührung den erlösenden 2:1-Siegtreffer gegen Georgien © Bongarts/Getty Images | Boris Streubel
Max Kruse ist der Held einer ansonsten enttäuschenden deutschen Nationalmannschaft
Max Kruse ist der Held einer ansonsten enttäuschenden deutschen Nationalmannschaft © REUTERS | FABRIZIO BENSCH
Der Wolfsburger überwand Georgiens Schlussmann Rewischwili mit einem platzierten Linksschuss
Der Wolfsburger überwand Georgiens Schlussmann Rewischwili mit einem platzierten Linksschuss © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Kruse bedankte sich prompt bei Vorlagengeber Mesut Özil, der ihn mustergültig bediente
Kruse bedankte sich prompt bei Vorlagengeber Mesut Özil, der ihn mustergültig bediente © dpa | Jan Woitas
Zunge raus, wir fahren zur EM!
Zunge raus, wir fahren zur EM! © dpa | Jens Wolf
Mats Hummels legte Okriashvili in der Nachspielzeit und kassierte für dieses taktische Foul die Gelbe Karte
Mats Hummels legte Okriashvili in der Nachspielzeit und kassierte für dieses taktische Foul die Gelbe Karte © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Kankawa erzielte den Ausgleich für Georgien
Kankawa erzielte den Ausgleich für Georgien © Bongarts/Getty Images | Dennis Grombkowski
Riesenjubel bei Georgien nach dem Treffer
Riesenjubel bei Georgien nach dem Treffer © Bongarts/Getty Images | Matthias Hangst
Kurz zuvor schoss Thomas Müller Deutschland per Elfmeter in Führung
Kurz zuvor schoss Thomas Müller Deutschland per Elfmeter in Führung © dpa | Thomas Eisenhuth
Müller guckte wie gewohnt den Torwart aus und schob souverän ein ins rechte untere Eck
Müller guckte wie gewohnt den Torwart aus und schob souverän ein ins rechte untere Eck © dpa | Thomas Eisenhuth
Manuel Neuer parierte teilweise spektakulär und war der gewohnt sichere Rückhalt seiner Mannschaft
Manuel Neuer parierte teilweise spektakulär und war der gewohnt sichere Rückhalt seiner Mannschaft © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Mats Hummels ging bei Standards mit nach vorne. Doch auch er konnte Geeorgiens Torhüter Nukri Rewischwili in Halbzeit eins nicht überwinden
Mats Hummels ging bei Standards mit nach vorne. Doch auch er konnte Geeorgiens Torhüter Nukri Rewischwili in Halbzeit eins nicht überwinden © dpa | Thomas Eisenhuth
Thomas Müller hatte viele gute Ideen im Offensivspiel der Deutschen
Thomas Müller hatte viele gute Ideen im Offensivspiel der Deutschen © Bongarts/Getty Images | Matthias Hangst
Toni Kroos holt einen Freistoß heraus, den Reus zwar sehenswert über die Mauer zirkelte, aber nicht im Tor unterbrachte
Toni Kroos holt einen Freistoß heraus, den Reus zwar sehenswert über die Mauer zirkelte, aber nicht im Tor unterbrachte © Bongarts/Getty Images | Alexander Hassenstein
Reus, immer wieder Reus. Der Offensivspieler vergab Chance um Chance
Reus, immer wieder Reus. Der Offensivspieler vergab Chance um Chance © dpa | Thomas Eisenhuth
Ilkay Gündogan war immer wieder anspielbar im Zentrum und überzeugte durch ein gutes Auge für seine Mitspieler
Ilkay Gündogan war immer wieder anspielbar im Zentrum und überzeugte durch ein gutes Auge für seine Mitspieler © dpa | Thomas Eisenhuth
Marco Reus hätte in der ersten Halbzeit Deutschland im Alleingang zur EM schießen können. Doch der Dortmunder vergab zum Teil kläglich
Marco Reus hätte in der ersten Halbzeit Deutschland im Alleingang zur EM schießen können. Doch der Dortmunder vergab zum Teil kläglich © Bongarts/Getty Images | Dennis Grombkowski
André Schürrle springt höher als seine Gegenspieler. Doch ein Tor wollte ihm nicht gelingen
André Schürrle springt höher als seine Gegenspieler. Doch ein Tor wollte ihm nicht gelingen © Bongarts/Getty Images | Alexander Hassenstein
Toni Kroos (r.) weiß sich in dieser Szene nur noch mit einem taktischen Foul zu helfen
Toni Kroos (r.) weiß sich in dieser Szene nur noch mit einem taktischen Foul zu helfen © dpa | Jens Wolf
Mats Hummels und Jérôme Boateng klären im Kollektiv
Mats Hummels und Jérôme Boateng klären im Kollektiv © Bongarts/Getty Images | Boris Streubel
Marco Reus hätte Deutschland in Führung schießen müssen. Der Dortmunder vergab kläglich in der 13. Minute
Marco Reus hätte Deutschland in Führung schießen müssen. Der Dortmunder vergab kläglich in der 13. Minute © Bongarts/Getty Images | Alexander Hassenstein
Linksverteidiger Jonas Hector schaltete sich häufig ins Offensivspiel ein
Linksverteidiger Jonas Hector schaltete sich häufig ins Offensivspiel ein © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Matthias Ginter verteidigte erneut rechts in der Viererkette und klärt hier souverän gegen Giorgi Navalovsky
Matthias Ginter verteidigte erneut rechts in der Viererkette und klärt hier souverän gegen Giorgi Navalovsky © Bongarts/Getty Images | Matthias Hangst
Thomas Müller feuerte den ersten Warnschuss der Partie ab
Thomas Müller feuerte den ersten Warnschuss der Partie ab © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Der zuletzt formschwache André Schürrle spielte anstelle des verletzten Mario Götze im Sturm
Der zuletzt formschwache André Schürrle spielte anstelle des verletzten Mario Götze im Sturm © Bongarts/Getty Images | Alexander Hassenstein
Kapitän Bastian Schweinsteiger ist nicht rechtzeitig fit geworden, er saß zu Beginn nur auf der Bank
Kapitän Bastian Schweinsteiger ist nicht rechtzeitig fit geworden, er saß zu Beginn nur auf der Bank © Bongarts/Getty Images | Matthias Hangst
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Schließlich diente die Begegnung gegen Georgien als Blaupause für die meisten Qualifikationsspiele. „Immer wieder das gleiche Strickmuster“, analysierte Thomas Müller, „man kann nicht wirklich glänzen, die Gegner machen es einem nicht leicht mit ihrer destruktiven Spielweise.“ Und Bundestrainer Joachim Löw zog einen Vergleich zum Faustkampf: „Wir sind im Moment ein Boxer, der viele Treffer landet, aber nicht frühzeitig den K.o. schafft.“

Ja, die berühmte Chancenverwertung. Wieder einmal. Immerhin, an Erklärungsversuchen mangelte es nicht, die im Endeffekt aber ebenfalls alle nach dem gleichen Muster vorgetragen wurden: Man spielt bis zum Tor sehr ordentlich, lässt aber die ersten Möglichkeiten fahrlässig aus (Boateng: „Eine Katastrophe!“), wird ungeduldig, fahrig und verliert zunehmend die Ordnung. „Das ist schon sehr mühsam“, sagte Müller mit ungewohnt ernster Miene. „Wir müssen an unserer Killermentalität arbeiten.“

Boateng übernimmt die Motzki-Rolle

Was auch für die Defensive gilt. Als unangenehme Folge der kollektiven Abschlussschwäche taten sich zum wiederholten Mal Lücken in der Defensive auf, die Erinnerungen an das legendäre 4:4 gegen Schweden wachriefen, als die DFB-Auswahl in ihrem unbändigen Offensivdrang das Verteidigen vernachlässigte. Um nicht wieder in die Chefkritiker-Ecke gestellt zu werden, wählte Innenverteidiger Mats Hummels die Formulierung „holprig“, um das ungenügende mannschaftliche Verteidigen zu monieren.

Wie so etwas passieren kann? „Das kommt davon, wenn man einen Schritt zu wenig läuft oder glaubt, es geht von alleine. Wir müssen das hinten dann ausbaden“, übernahm Boateng die Motzki-Rolle, flankiert von Torwart Manuel Neuer: „Wenn man das Gegentor anschaut, ist es ganz einfach Schläfrigkeit. Bei einer kurz gespielten Ecke müssen einfach zwei Leute raus, Der Sechzehner muss besetzt sein, das sind Sachen, die mit der Konzentration und Wachsamkeit zu tun haben.“

Und was sagt der (Fußball-)Lehrer dazu? „Im taktischen Bereich müssen wir schon die eine oder andere Überlegung anstellen“, gab Löw indirekt zu, obwohl als Entschuldigung angeführt werden kann, dass bei gerade mal zwei Trainingseinheiten vor einem Länderspiel keine großen Feinheiten einstudiert werden können.

Löw sieht Außenverteidiger als Problem

Natürlich kam auch er nicht umhin, auf die Knipser-Frage einzugehen angesichts einer ineffizienten Quote von sieben, nach guten Chancen, die man für einen Treffer benötigt. Man dürfe jetzt nicht den Fehler machen zu glauben, dass man einen kopfballstarken, großen Spieler wie einst Horst Hrubesch benötige, schließlich hatte Georgien auch drei große Spieler in der Mitte, die genau darauf warteten, dass hohe Bälle reingespielt werden. Nein, hohe Bälle aus dem Halbfeld in den Sechzehner zu hauen, das entspricht auch längst nicht mehr dem Spielstil der hochbegabten deutschen Mannschaft, sondern das technisch anspruchsvolle und schnelle Kombinationsspiel. Also wo ansetzen?

Als Problem macht Löw aus, dass „wir im Moment stark durch die Mitte spielen“. Es fehle die Variante, auf Außen entscheidend mit Tempo durchzubrechen von diesen Positionen. Zu beheben ist dieses Problem nicht mal eben mit einem Fingerschnippen. Ein Jonas Hector spielt in Köln eher aus einer defensiven Grundordnung, ist auf das Konterspiel ausgerichtet. Wenn die Außenverteidiger dann in der Nationalmannschaft hoch stehen sollen, benötigt das naturgemäß Eingewöhnungszeit, was gegen defensive Mannschaften extrem auffällt.

Einzelkritik: Neuer pariert spektakulär, Schürrle enttäuscht

Überhaupt, die Außenverteidiger. Natürlich ist die Nationalelf überwiegend mit Akteuren von internationaler Klasse oder sogar Weltklasse besetzt – mit Ausnahme dieser Positionen, hier befindet sich Löw noch im Suchmodus. Schon bei der WM 2014 musste der DFB-Coach in der Abwehrreihe improvisieren, hier ist seine Trainerkunst nun wieder gefragt.

So hat mit dem gestrigen Abend eine Testphase begonnen. Am 13. November kommt es in Paris zum Duell gegen den EM-Gastgeber Frankreich, vier Tage später beschließt das Freundschaftsspiel in Hannover gegen die Niederlande das Länderspieljahr. Vielleicht kommt in diesen Partien, in denen der Gegner auch mal nach vorne spielen wird, das zurück, was Mesut Özil im deutschen Spiel derzeit vermisst: „Das Glück.“ Vor allem bei Reus.