Dublin/Hamburg. Nach dem 0:1 in Irland und vor dem unerwarteten EM-Qualifikationsfinale gegen Georgien geht nun das große Rechnen los.

Es war schon ziemlich spät am Abend, als die altbekannte Redensart „Fußball ist keine Mathematik“ in Dublin ohne Vorwarnung und ersatzlos aus dem Sportsprachgebrauch gestrichen werden musste. Zunächst waren es Deutschlands Außenverteidiger Jonas Hector und Matthias Ginter, die im Bauch des Aviva Stadium ungeniert zugaben, dass sie mit einer Ad-hoc-Meinung zur nicht unkomplizierten Tabellenaritmetik der Gruppe D überfordert wären.

Wenig später machte Mats Hummels trotz beeindruckender Ansätze im Kopfrechnen die Verwirrung perfekt. Er habe bereits auf die Tabellenspitze geschaut, sagte Hummels. „Von den Punkten her müsste das 19, 18, 18 heißen, oder?“, frage er und schob noch vor der Antwort in der Stadiontiefgarage die nächste Tabellenfrage hinterher: „Wenn wir gegen Georgien verlieren und Polen und Irland unentschieden spielen, sind wir dann nur Dritter?“

So weit, so schlecht, so richtig. Doch vor dem EM-Qualifikationsfinale am Sonntag (20.45 Uhr/RTL und im Liveticker bei abendblatt.de) war dann sogar Hummels mit seinem Tabellen-Einmaleins am Ende: „Ganz ehrlich: Ich weiß auch nicht, was eigentlich passiert, wenn wir wirklich Dritter werden sollten. Wären wir dann trotzdem direkt weiter? Oder würden wir zumindest auf jeden Fall Play-offs spielen?“

Deutschland will Irland-Spiel abhaken

Die Antwort darauf ist kompliziert: Deutschland könnte sich als bester Gruppendritter tatsächlich direkt für die Europameisterschaft qualifizieren, müsste ansonsten aber im November in die Play-offs. Voraussetzung hierfür wäre, das der Weltmeister gegen Georgien verliert und sich zeitgleich Polen und Irland Unentschieden trennen. „Aha“, sagte der nun leicht überforderte Hummels. „Dann versuchen wir mal, es nicht auf irgendwelche komplizierten Rechnereien ankommen zu lassen.“

Deutschland vermasselt es gegen Irland

James McCarthy blockt einen Schuss von Mesut Özil
James McCarthy blockt einen Schuss von Mesut Özil © WITTERS | TimGroothuis
Nix geht mehr: Mario Götze (M.) verletzte sich in Hälfte eins an den Adduktoren und musste ausgewechselt werden
Nix geht mehr: Mario Götze (M.) verletzte sich in Hälfte eins an den Adduktoren und musste ausgewechselt werden © WITTERS | TimGroothuis
Thomas Müller (l.)war wie immer viel unterwegs und scheute keinen Zweikampf. Hier erwischt er den Ball vor John O'Shea...
Thomas Müller (l.)war wie immer viel unterwegs und scheute keinen Zweikampf. Hier erwischt er den Ball vor John O'Shea... © WITTERS | TimGroothuis
... und in dieser Szene vor Stephen Ward (r.)
... und in dieser Szene vor Stephen Ward (r.) © WITTERS | TimGroothuis
Thomas Müller (l.) Mesut Özil hadern mit der CHancenverwertung
Thomas Müller (l.) Mesut Özil hadern mit der CHancenverwertung © WITTERS | TimGroothuis
Augen zu und durch: Rechtsverteidger Matthias Ginter (r.) im Kopfballduell mit Jonathan Walters
Augen zu und durch: Rechtsverteidger Matthias Ginter (r.) im Kopfballduell mit Jonathan Walters © REUTERS | Phil Noble
Irlands Torhüter Shay Given musste Ende der ersten Hälfte behandelt werden
Irlands Torhüter Shay Given musste Ende der ersten Hälfte behandelt werden © Getty Images | Ian Walton
Der 39 Jahre alte Keeper verletzte sich bei einem Abstoß und musste ausgewechselt werden
Der 39 Jahre alte Keeper verletzte sich bei einem Abstoß und musste ausgewechselt werden © REUTERS | Andrew Couldridge
James McCarthy (r.) versucht Mario Götze aufzuhalten
James McCarthy (r.) versucht Mario Götze aufzuhalten © REUTERS | Andrew Couldridge
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Es ist ja schon so kompliziert genug. So suchte man am Tag nach Deutschlands nicht einkalkulierter Niederlage gegen Irland auch abseits aller Zahlenspielereien nach Antworten. „Es war eine der unnötigsten Niederlagen der letzten Jahre“, sagte der konsterniert wirkende Bundestrainer Joachim Löw, ehe er und die Mannschaft sich am Vormittag mit einer Sondermaschine von Dublin aus auf den direkten Weg nach Leipzig machten. „Wir müssen dieses Spiel nun verarbeiten und dann auf Georgien schauen.“

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Abhaken und fertig. Das wäre sicherlich eine mögliche Vorgehensweise, wenn man eine überzeugende Erklärung für das Unmögliche am Morgen danach gehabt hätte. Gegen Irland hatte Löws Mannschaft 72 Prozent Ballbesitz und „mindestens fünf Torchancen, bei denen wir ein Tor machen mussten“ (Manuel Neuer) – doch am Ende lagen sich statt den Deutschen die Iren in den Armen, und das ganze Stadion sang den alten Depeche-Mode-Klassiker: „I just can’t get enough.“

Löw beschäftigt sich nicht mit Zahlenspielereien

Mehr als genug hatte Löw von einer Sturmdebatte, bevor diese überhaupt so richtig aufkommen konnte. Direkt nach der Niederlage gegen Irland war es RTL-Experte Jens Lehmann, der sich für eine Nachnominierung eines durchschlagskräftigen Stürmers wie Frankfurts Alexander Meier oder Mario Gomez (Besiktas Istanbul) starkmachte. Doch obwohl neben Bastian Schweinsteiger mit Mario Götze auch Löws „falsche Neun“ gegen Georgien verletzt ausfällt, wollte der Bundestrainer nichts von aktionistischen Nachnominierungen wissen. „Wir hatten genug Chancen, aber haben wieder mal viel zu viel liegen gelassen“, sagte der Fußballlehrer stattdessen. „Der letzte Pass kommt nicht an, das müssen wir verbessern.“

Pressestimmen zum 0:1 gegen Irland

Irish Times (Irland)

"Longs Schuss versenkt den Weltmeister an einem historischen Abend. Die deutsche Mannschaft wirkte den ganzen Abend über hochmütig und lässig. Deutschland hatte die Zombiechen und die Geisterlein, aber in dieser vorzeitigen Halloween-Nacht hatte Irland die langbeinige Bestie, Vorname Shane. In der ersten Halbzeit spielte Deutschland wie die Berliner Philharmoniker und Irland wie Gäste an der zweiten Geige, die von Musik keine Ahnung hatten."

Irish Independent (Irland)

"Es war eine Nacht für Helden, als das erschöpfte Team von Martin O'Neill den deutschen Angriffen standhielt und seine Chance in einem vollen Haus im Delirium nutzte. It's a LONG way home for the Germans (Es ist ein langer Weg nach Hause für die Deutschen)."

Irish Sun (Irland)

"Die Boys in Green machen uns stolz. Die Green Army rastete nach dem Schock-Sieg über den Weltmeister und einem weiteren Schritt Richtung Frankreich aus."

Daily Mail (England)

"Ireland play the Long game!"

Independent (England)

"Long erschießt den Weltmeister und hält den EM-Traum am Leben."

The Times (England)

"Long schickt Dublin in die Europhie. Für nur eine Nacht fühlte es sich an wie früher. Die Straßen um das Stadion bebten, es gab Widerstand und Leidenschaft im Überfluss und, als es darauf ankam, gab es ein Tor nach einem langen Ball, das die Erinnerungen an Jack Charlton weckte."

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz)

"Deutschland bös überrascht. Irland besiegt den Weltmeister - die dominanten Deutschen vergeben Chancen und sind noch nicht qualifiziert."

Gazzetta dello Sport (Italien)

"Fest vertagt: Long schenkt den Iren einen verrückten Sieg gegen den Weltmeister."

Marca (Spanien)

"Deutschland muss warten: Ein Tor von Shane Long besiegelt den Wahnsinn von Dublin und verschiebt den Einzug der Deutschen in die Endrunde."

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Überraschend war das vor allem deshalb, weil dem Bundestrainer mit Toni Kroos, Ilkay Gündogan, Mesut Özil, Thomas Müller, Marco Reus und bis zu seiner Verletzung auch Mario Götze eine Art Offensiv- und Kreativgarantie zur Verfügung stand, die prädestiniert für Löws schnellen und variabelen Angriffsfußball schien. Zumindest in der Theorie. In der Praxis hatte der handballartige Fußball der Nationalmannschaft allerdings nur wenig mit den Idealvorstellungen des Bundestrainers zu tun. Geboten wurde eher eine Abwandlung von Barcelonas Tiki-Taka-Fußball – nur ohne Tiki und Taka.

„Wir haben es auch jetzt immer noch selbst in der Hand, uns aus eigener Kraft zu qualifizieren“, sagte Löw trotzig. Keinesfalls wollte er den Fehler begehen, sich vor dem nicht eingeplanten Qualifikationsendspiel gegen Georgien zu sehr mit Zahlenspielerein zu beschäftigen. Ähnlich sah es auch Jérôme Boateng, der als einziger gegen Irland Normalform vorweisen konnte. Wie er die ach so komplizierte Tabellensituation bewerte? „Das interessiert mich nicht“, antwortete Boateng. „Wir sollten Sonntag gewinnen, dann weiß ich, dass wir ganz sicher weiter sind.“