Der Hamburger Alexander Zverev will beim Tennisturnier am Rothenbaum nachweisen, warum Experten ihn für das größte deutsche Talent halten.

Hamburg. Im Gefühlsgewirr, dem er sich ausgesetzt sah am vorvergangenen Sonnabend, hat sich Alexander Zverev eine Frage gestellt. Gerade hatte der 17-Jährige das Challengerturnier in Braunschweig gewonnen, es war der erste große Erfolg seiner kurzen Profikarriere, die erst in diesem Jahr begonnen hat, er musste eine Dankesrede halten und wusste vor Aufregung nichts zu sagen. Und dann fragte er sich, ob überhaupt schon einmal ein deutscher Tennisprofi in seinem Alter ein solches Turnier gewonnen hatte.

Man kann also die Dimensionen dieses Triumphes erahnen, wenn sie einen Tennisenthusiasten wie Alexander Zverev vergessen lassen, dass es da mal einen Spieler namens Boris Becker gab, der 1985 17 Jahre alt war, als er in Wimbledon siegte, beim wichtigsten Turnier der Welt. „Das waren komplett andere Zeiten, so etwas ist heute gar nicht mehr möglich, das Spiel hat sich athletisch viel zu sehr entwickelt“, sagt Alexander Zverev. Natürlich hat er recht, aber wer die Kommentare verfolgte, die in den vergangenen Tagen über den jungen Hamburger in die Welt geschickt wurden, der weiß, dass es nicht wenige Menschen gibt, die Zverev zutrauen, in Beckers Spuren zu wandeln.

„Ich habe gegen ein ganz großes Talent verloren, dem eine große Karriere bevorsteht“, sagte der Franzose Paul-Henri Mathieu, der immerhin mal Weltranglistenzwölfter war und in Braunschweig im Finale an Zverev scheiterte. Und US-Legende John McEnroe sagte am Rande des ATP-Turniers in Stuttgart, wo Zverev im Einzel zwar in Runde eins ausschied, aber im Doppel mit Michael Berrer bis ins Halbfinale vorstieß: „Er hat ein gutes Spiel und wird seinen Weg gehen. Ich bin sicher, dass er schon bald bei den Großen mitmischen kann.“

Mit der Erwartungshaltung, ein Hoffnungsträger für das darbende deutsche Herrentennis zu sein, muss Alexander Zverev spätestens umgehen, seit er in diesem Januar bei den Australian Open den Juniorentitel gewann. In dieser Woche dürfen ihm die Hamburger Fans bei der Arbeit zuschauen, zum zweiten Mal in Serie tritt er dank einer Wildcard im Hauptfeld des Rothenbaum-Turniers an. Auftaktgegner ist am Dienstag der Niederländer Robin Haase. Turnierdirektor Michael Stich, ein wichtiger Förderer und Ratgeber in Zverevs Karriere, hat den Deutschrussen für die kommenden fünf Jahre zur Teilnahme verpflichtet in der Hoffnung, mit ihm ein Zugpferd aufbauen zu können. Dennoch mahnt der Wimbledonsieger von 1991 Geduld und Rücksichtnahme an. „Er hat definitiv großes Potenzial, aber ihn als Heilsbringer des deutschen Herrentennis zu sehen, das wäre unfair. Er muss die Zeit bekommen, sich körperlich und spielerisch noch zu entwickeln.“

Daran arbeitet der 194 Zentimeter lange Schlaks hart. Mit einem Athletiktrainer hat er in den vergangenen Monaten vor allem an der Kraftausdauer und am Muskelaufbau gefeilt. Der Lohn: Körperlich haben ihm die vergangenen beiden Wochen weniger zugesetzt als befürchtet. „Ich bin gar nicht so müde, wie ich gedacht hätte, habe die Belastungen gut weggesteckt. Was mir fehlt, ist die Erfahrung von Matches gegen Gegner aus den Top 100 der Weltrangliste“, sagt er. In Braunschweig schlug er in Daviscupspieler Tobias Kamke, dem Kasachen Andrej Golubev und Mathieu gleich drei davon. „Das hat mir enormes Selbstvertrauen gegeben und mich in meinem Glauben bestärkt, dass ich mithalten kann bei den Profis“, sagt er. Besonders der Sieg gegen Kamke, den er seit Kindertagen aus dem gemeinsamen Heimatverein Uhlenhorster HC kennt, sei „unfassbar“ gewesen.

Alexander Zverev, den alle nur Sascha nennen, wird sich an solche Siege wahrscheinlich schnell gewöhnen. Durch den Turniersieg in Braunschweig, der ihm neben 15.300 Euro Preisgeld auch 125 Weltranglistenpunkte bescherte, brachte er die interfamiliäre Ordnung durcheinander. Mit dem Sprung auf Rang 285 des Rankings überholte er erstmals seinen Bruder Mischa. Der 26-Jährige, der 2009 für Deutschland im Daviscup antrat und bis auf Platz 45 der Welt vorpreschte, ist nach diversen Verletzungen auf Position 350 abgerutscht. Bei ihrem letzten Duell Anfang April, in Runde eins der Qualifikation zum ATP-Turnier im texanischen Houston, siegte Mischa nur, weil der Jüngere nach mehr als zwei Stunden Spielzeit wegen Krämpfen aufgab. Der erste Sieg im Bruderduell scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, auch wenn er sagt: „Gegen Mischa werde ich immer verlieren, weil ich als jüngerer Bruder gar nicht gewinnen darf.“

Das sei natürlich Unsinn, sagt Mischa, der nach einer Handgelenksoperation am Sonntagabend aus seiner Wahlheimat USA in Hamburg einschwebte, um den Bruder am Rothenbaum zu unterstützen. „Ich freue mich unheimlich für Saschas Erfolge. Er ist reifer geworden, spielt viel abgeklärter als letztes Jahr in Hamburg“, sagt er. Die Zverevs sind ein verschworenes Familienunternehmen. Die Eltern Irina und Alexander Senior trainieren ihre Söhne und reisen mit ihnen durch die Welt. Für Alexander ist Mischa weiterhin ein Vorbild, „es gibt nichts, was ich anders machen würde als er, er hilft mir sehr mit seinen Tipps“, sagt er.

Es ist jedoch nicht nur der Spielstil, der Grundlinienspieler Sascha vom Angriffsakteur Mischa unterscheidet. Sascha wird von seinem britischen Manager Patricio Apey systematisch abgeschirmt, er soll sich ganz auf Tennis konzentrieren und sich mit Medienanfragen und anderen Nebengeräuschen nicht befassen. Die hohen Erwartungen von Fans und Experten versucht das Toptalent, das im vergangenen Jahr die Schule nach der mittleren Reife verließ, um sich voll auf den Profisport zu konzentrieren, nicht an sich herankommen zu lassen. „Für mich ist es nicht wichtig, was die Leute reden. Wichtig ist, dass ich in fünf Jahren mit den Topspielern mithalte“, sagt er. Vergleiche mit Becker oder Stich kanzelt er als „Schwachsinn“ ab: „Das waren Spieler, mit denen ich mich nie vergleichen würde“, sagt er.

Demut schwingt mit in diesen Worten, die Sascha Zverevs Sache eigentlich nicht ist. Seine Ziele für den zweiten Rothenbaum-Auftritt hat er wesentlich forscher formuliert. „Hamburg ist für mich das wichtigste Turnier des Jahres. Im vergangenen Jahr war ich hier, um zu lernen. In diesem Jahr komme ich, um mitzuhalten und ein paar Matches zu gewinnen.“ Klingt gut, und spätestens seit Braunschweig weiß er ja, dass er das kann, auch bei den Profis.