DFB-Präsident Wolfgang Niersbach setzt sich für die Arbeit an der Basis ein und spricht über zu hohe Einnahmen aus der Champions League, Pyrotechnik, den Videobeweis sowie den HSV.

Die Schnittchen im Konferenzraum des Abendblatts rührte er gar nicht an. Voller Leidenschaft diskutierte Wolfgang Niersbach, 62, seit März 2012 Präsident des DFB, 90 Minuten mit den Abendblatt-Redakteuren über die schönste Nebensache der Welt, die seit mehr als 40 Jahren seine Profession ist: den Fußball.

Hamburger Abendblatt: Herr Niersbach, Sie haben mal gesagt, dass Sie als Kind das Fußballbuch „3:2“ von Fritz Walter fast auswendig gelernt haben. Wie viel von Ihrer Begeisterung als Fan haben Sie bei Ihrem Marsch durch die Institutionen verloren?

Wolfgang Niersbach: Ich bin natürlich nicht mehr der kleine Junge, der sich damals unter den Zaun des Rheinstadions zu den Heimspielen der Düsseldorfer Fortuna geschmuggelt hat. Aber begeisterter Fan bin ich geblieben. Auf der Tribüne kann ich mich total freuen und genauso sehr ärgern. Nur der typische Satz eines enttäuschten Fans, da gehe ich nie wieder hin, kommt mir nicht über die Lippen (lacht).

Im TV sieht man Sie häufig an der Seite der Kanzlerin jubeln oder leiden. Gibt es eine Jubel-Etikette auf der VIP-Tribüne?

Niersbach: Nein, wir sind dort völlig unverstellt. Die größte Qual war in dieser Hinsicht das deutsche Finale in der Champions League zwischen Dortmund und Bayern in London. Da habe ich der Kanzlerin vorher gesagt, dass wir bei einem Tor sitzen bleiben müssen. Schließlich waren wir der Neutralität verpflichtet.

Haben Sie eigentlich die Handynummer der Kanzlerin?

Niersbach: Ja, im Bedarfsfall können wir sehr schnell Kontakt zueinander aufnehmen, was auch schon ein paar Mal geschehen ist.

Ihr Gewicht in der Öffentlichkeit hat sich durch das neue Amt stark verändert. Sie sind jetzt der Chef des größten Einzelsportverbands der Welt.

Niersbach: Soll ich deswegen auf großen Staatsmann machen? Dem Zeugwart unserer Nationalmannschaft das Du entziehen, nur weil ich Präsident bin? Das kann es nicht sein. Ich brauche auch weiter keinen Chauffeur, fahre gern selbst. Wenn mir am Anfang bei Auslandsreisen jemand zurief: „Hallo Mr. President“, habe ich mich erst mal umgedreht, weil ich dachte: Wen meint er denn da?

Ihre Bescheidenheit in allen Ehren. Viele Fans sehen dennoch den Trend zur totalen Kommerzialisierung. Der Profifußball wird zum Event, bei der die Fußballkultur immer weiter verloren geht.

Niersbach: Wollen Sie ernsthaft zurück in die Zeit der 70er- und 80er-Jahre mit den kalten, unwirtlichen Stadien? Ist Schwarz-Weiß-Fernsehen besser als Farb-TV?

Es bleibt dennoch das Gefühl, dass die Inszenierung inzwischen wichtiger ist als der Inhalt.

Niersbach: Als Präsident des DFB werde ich mich immer dafür einsetzen, dass das Spiel total im Mittelpunkt steht und nicht die Show mit Einlaufmusik oder einer tollen Choreografie. Und der Fußball muss bezahlbar bleiben. Mit einem Ticketpreis von 21 Euro im Schnitt für ein Spiel ist die Bundesliga deutlich günstiger als die Ligen in England, Italien oder Spanien. Ein Freund von mir hat kürzlich den Clásico Barcelona gegen Real Madrid besucht, der Platz auf der Gegentribüne hat 203 Euro gekostet! Wenn Fußballkultur allerdings gleichgesetzt wird mit dem Abbrennen von Pyrotechnik, dann sage ich ganz deutlich, dass das bei uns verboten ist.

Fangruppen, vor allem aus dem Lager der Ultras, werfen Ihnen vor, dass Sie nicht dialogbereit sind.

Niersbach: DFB und DFL stehen für Dialog und suchen den Dialog. Außerdem investieren wir jedes Jahr Millionen in Fanprojekte. Aber nur mit Prävention kommen Sie leider auch nicht immer weiter. Es gibt Punkte, da hört jedes Verständnis auf. Das Schießen mit Leuchtmunition in einem voll besetzten Stadion, wie jüngst beim Revierderby zwischen Schalke und Dortmund, ist lebensgefährlich. Mit jemandem, der mit 120 km/h durch eine Fußgängerzone rast, kann man auch nicht mehr diskutieren, sondern muss ihm den Führerschein abnehmen.

Aber ist es wirklich gerecht, wenn jetzt Schalke für Taten aus dem Gästeblock büßen muss?

Niersbach: Ich vergleiche das gern mit einer Kneipe, wo trotz Rauchverbots immer wieder gequalmt wird. Irgendwann hat dann auch der Wirt als Gastgeber ein Problem. Die Juristen nennen das verschuldensunabhängige Haftung. Unser Ziel ist es aber, durch die Hilfe der Vereine noch stärker als in der Vergangenheit die Täter zu ermitteln.

Brauchen wir noch härtere Strafen?

Niersbach: Das Problem ist eher, dass wir den Täter erst mal identifizieren müssen.

Fühlen Sie ein Gefühl der Ohnmacht?

Niersbach: Ich erinnere mich noch gut an das WM-Spiel 2006 zwischen Mexiko und Iran in Nürnberg. Damals gab es Hinweise auf eine Selbstverbrennung im Stadion. Ein Veranstalter steht dann extrem in der Verantwortung. Am Ende musst du entscheiden und dich darauf verlassen, dass Polizei und Ordnungskräfte alles in ihrer Macht Stehende tun.

Die Verbände und Clubs reichen Strafen in der Regel an die Täter weiter…

Niersbach: … und auch dann bleibt oft ein Gewissenskonflikt. Bei einem Länderspiel gegen Österreich in Gelsenkirchen hatten wir einmal Flitzer. Die Strafe der Uefa haben wir dem Jugendlichen in Rechnung gestellt. Dann schrieben uns die Eltern, dass wir die wirtschaftliche Existenz ihres Sohnes ruinieren. Am Ende haben wir dann eine Ratenzahlung vereinbart. Aber lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches sagen: Der Besuch in den Stadien ist sicher, und das bei 17 bis 18 Millionen Zuschauern in einer Bundesligasaison.

Wie erklären Sie sich den Boom?

Niersbach: Ein Schlüssel war sicherlich das Sommermärchen der WM 2006. Heute haben wir wunderbare Stadien, in denen sich auch Frauen wohlfühlen. Wir haben inzwischen einen Frauenanteil von bis zu 40 Prozent. Früher hat sich mancher beim Anblick eines weiblichen Fans in der Kurve noch gefragt: Hat sie sich verlaufen?

Dennoch ist es erstaunlich, schließlich verlieren Institutionen wie Kirchen, Gewerkschaften oder Parteien seit Jahren konstant Mitglieder. Was macht der Fußball anders?

Niersbach: Unsere Nationalmannschaft erzeugt ein enormes Gemeinschaftsgefühl. Bei unserem letzten Qualifikationsspiel in Schweden waren zwölf Millionen Zuschauer am TV dabei, obwohl wir uns schon für die WM qualifiziert hatten. Dies hängt sicherlich auch mit unserer attraktiven Spielweise zusammen. Bei unseren Mitgliederzahlen dürfen wir allerdings nicht übersehen, dass die Zahl der aktiven Fußballer in den Vereinen sinkt. Auch wir spüren den demografischen Wandel. Deshalb starten wir ja auch eine Imagekampagne, um für den Amateurfußball und das Ehrenamt zu werben.

Wir hätten eine andere Idee, den kleinen Fußball zu stärken.

Niersbach: Welche?

Die Sonntagsspiele der Bundesliga müssen weg, dann entfällt die ganz große Konkurrenz für den Amateurfußball.

Niersbach: Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Sonntagsspiele kaum einen Einfluss auf die Zuschauerzahlen haben. Clevere Vereine, die sich einen Sky-Decoder ins Vereinsheim stellen, haben zum Teil sogar mehr Zuschauer.

Ihr Vorvorgänger Egidius Braun hat aber mit Verve gegen Sonntagsspiele in der Bundesliga gekämpft, um den Amateurfußball zu schützen.

Niersbach: Ich finde, in der Fernsehfrage wurde mit insgesamt fünf verschiedenen Anstoßzeiten an drei Tagen ein guter Kompromiss gefunden. Würden alle Spiele sonnabends um 15.30 Uhr angepfiffen, gäbe es viel weniger TV-Gelder. Übrigens ist dank unserer hohen TV-Einnahmen die Mitgliedschaft für unsere aktiven Fußballer so günstig. Für 80 oder 90 Euro, die Eltern für ihr Kind im ganzen Jahr zahlen, gibt es im Tennis gerade mal drei Trainerstunden. Im Fußball bekommen die Kinder zwei- oder dreimal in der Woche qualifiziertes Training, Trikots, eine Betreuung.

Warum wird es immer schwieriger, Leute für ein Ehrenamt zu begeistern?

Niersbach: Wer heute ein Vorstandsamt in einem Verein übernimmt, ist am Ende womöglich noch in der Haftung, falls beim Sponsoring irgendetwas nicht korrekt verbucht wird. Wenn der Metzger um die Ecke eine Mannschaft zum Essen einlädt, könnte es schon wieder geldwerter Vorteil sein, der versteuert werden muss. Diese Fragen schrecken manchen ab.

Aber der Staat will doch auch das Ehrenamt fördern.

Niersbach: Richtig, wollen wir auch, machen wir auch. Aber wenn wir verdiente Leute aus dem Ehrenamt zu einem Länderspiel einladen, sagt uns der gleiche Staat, das müsst ihr jetzt versteuern. Aber viel wichtiger ist uns ein Umdenken im Image.

Was meinen Sie damit konkret?

Niersbach: Amateur ist im heutigen Sprachgebrauch leider negativ besetzt. Er gilt als Dilettant, im Gegensatz zum Profi. Dabei ist ein Amateur vom lateinischen Ursprung ein Liebhaber. Wir brauchen diese Amateure, diese Liebhaber, für unsere Arbeit an der Basis.

Beim HSV wird derzeit intensiv über eine neue Struktur diskutiert, viele Mitglieder plädieren für eine Ausgliederung. Wird es in ein paar Jahren überhaupt noch einen eingetragenen Verein in der Bundesliga geben?

Niersbach: Jeder Club muss sich die Struktur geben, die am besten zu ihm passt. Das kann auch in zehn oder 20 Jahren immer noch der eingetragene Verein sein.

Eine Initiative kämpft derzeit beim HSV für die Öffnung für Investoren.

Niersbach: Entscheidend ist, dass der Verein die Mehrheit von 50 plus 1 behält. Diese Regelung muss bleiben. Wir möchten nicht, dass Vereine, wie etwa in Italien oder England, zum Spielball von Milliardären werden.

Warum hat der HSV seit 1987 keinen Titel mehr geholt?

Niersbach: Da sind Sie doch eher die Experten, dazu kann und werde ich nichts sagen. Von den Voraussetzungen her müsste der HSV regelmäßig im oberen Bereich mitspielen. Die Raute ist nach wie vor eine ganz wertvolle Marke, auch international.

Derzeit sieht alles danach aus, als ob Borussia Dortmund und der FC Bayern die Liga wieder dominieren. Droht der Bundesliga auf Sicht die Langeweile?

Niersbach: Ach, das ist schon so oft prophezeit worden. Mal hieß es, Bayern und Mönchengladbach sind uneinholbar, dann Bayern und der HSV, später Bayern und Werder Bremen. Ich bin überzeugt, dass auch in ein paar Jahren ein Außenseiter wie der SC Freiburg in dieser Saison ein 1:1 gegen die Bayern erreichen kann.

Aber der Unterschied ist doch, dass die Champions-League-Einnahmen extrem gestiegen sind.

Niersbach: Das stimmt, allein die Qualifikation für die Champions League bringt ja inzwischen schon zehn Millionen Euro. Die Kluft sollte nicht zu groß werden.

Wie kann man gegensteuern?

Niersbach: Schon in dieser Saison hat die Uefa die Europa League mit Einnahmen aus der Champions League mit 40 Millionen unterstützt. Aber diese Quersubventionierungen sind schwierig. Übrigens, ich warte schon die ganze Zeit auf die eine Frage.

Welche?

Niersbach: Holt Deutschland den WM-Titel?

Also gut. Werden wir Weltmeister?

Niersbach: Ich gebe hiermit zu Protokoll, dass wir Weltmeister werden wollen. Aber dafür braucht es neben Können auch das nötige Glück. Ich weiß, dass die Erwartungshaltung nach nur einer Niederlage und einem Unentschieden aus den vergangenen 25 Pflichtspielen enorm gewachsen ist. Das ist auch in Ordnung, dennoch wollen sieben oder acht andere Teams auch den Titel.

Sie haben den Vertrag mit Bundestrainer Joachim Löw vorzeitig bis 2016 verlängert. Aber kann er bei einem frühen WM-K.o. wirklich bleiben?

Niersbach: Bei der EM 2012 hätten wir durch eine Niederlage im letzten Vorrundenspiel gegen Dänemark noch ausscheiden können. Noch am Spieltag habe ich den Bundestrainer zur Seite genommen und ihm gesagt: „Jogi, egal was heute passiert, wir stehen zu dir.“ Wollen Sie ernsthaft die Zukunft einer Zusammenarbeit von einer unglücklichen Niederlage oder einer umstrittenen Schiedsrichterentscheidung abhängig machen? Bei den beiden bisher letzten Titelgewinnen 1990 und 1996 sind wir jeweils im Elfmeterschießen ins Finale gekommen. Da kann von Können dann nur begrenzt die Rede sein. Und was im Fußball alles passieren kann, haben wir ja beim Spiel von Leverkusen in Hoffenheim gesehen.

Sie spielen auf das Phantomtor von Stefan Kießling an. Werfen Sie ihm vor, dass er dem Schiedsrichter nicht gesagt hat, dass der Ball nicht drin war?

Niersbach: Stefan war am Tag der Sportgerichtsverhandlung bei mir im Büro. Er hat mir erklärt, dass er zunächst auch glaubte, dass er neben das Tor geköpft hat. Dann seien aber alle auf ihn zugestürmt, um mit ihm zu jubeln. Also hat er dann gedacht, er habe sich getäuscht. Ich kann ihm da überhaupt keinen Vorwurf machen. Mich hat viel mehr die Agonie im Stadion irritiert. Warum gab es keine Hinweise, auch nicht von außen? Der Schiedsrichter hätte noch bis zum Wiederanpfiff seine Entscheidung korrigieren können.

Können Sie als Fan wirklich damit leben, dass das Spiel nicht wiederholt wird?

Niersbach: Es war eine Tatsachen-Entscheidung, das hat auch das Sportgericht noch mal herausgehoben. Mir hat imponiert, wie sportlich fair Hoffenheim das Urteil hingenommen hat. Beide Clubs haben sich in dem Verfahren exzellent verhalten.

Was halten Sie von der Torlinien-Technologie, mit der man überprüfen kann, ob der Ball wirklich drin war?

Niersbach: Grundsätzlich bin ich dafür. Aber es müssen viele Detailfragen geklärt werden. Was machen wir etwa im Pokal? Da wir keinen Amateurclub zwingen können, diese teure Technik anzuschaffen, können wir sie aus meiner Sicht wahrscheinlich in diesem Wettbewerb gar nicht einsetzen, auch nicht in einem möglichen Finale Bayern München gegen Borussia Dortmund.

Kommt eines Tages der Videobeweis?

Niersbach: Davon halte ich gar nichts. Wir können doch nicht jede Abseitsstellung, jedes Foul, jedes Handspiel technisch überprüfen. Dies würde zu ständigen Unterbrechungen führen. Nein, damit gefährden wir unser Spiel.