Vier Jahre lang konnte Michael Schrader keinen einzigen Zehnkampf abschließen. Jetzt gewann er in Moskau die Silbermedaille hinter Olympiasieger Eaton.

Moskau. Die letzte Runde brach an, und Michael Schraders Verfall wurde immer sichtbarer. Sein Kopf pendelte noch ein bisschen mehr, seine Füße stampften noch ein wenig schwerer auf die Bahn, und dennoch quetschte er aus seinem abgearbeiteten Körper noch einmal eine Saisonbestzeit heraus. Dann plumpste Schrader nach 1500 Metern hinter der Ziellinie zu Boden, er streckte alle Viere von sich und verweilte in der stickigen Stadionluft wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Nur dass er nicht mit den Beinen strampelte. Wie auch?

So fühlt er sich also an, der größte Moment im Leben eines Athleten, der gerade den womöglich besten Zehnkampf seines Lebens bestritten hatte. „Was soll ich sagen?“, ächzte Schrader (8670 Punkte), „ich bin einfach so unglaublich glücklich über meine Silbermedaille.“ Lediglich Ashton Eaton, der US-amerikanische Weltrekordhalter (9039), ist mit diesmal 8809 Punkten noch besser gewesen, den Kanadier Damian Warner (8512) hängte der Deutsche um 158 Punkte ab.

Rico Freimuth rutschte nach dem 1500-Meter-Lauf noch vom vierten auf den siebten Platz zurück (8382). Europameister Pascal Behrenbruch aus Frankfurt wurde Elfter (8316) und blieb als Einziger des deutschen Zehnkampftrios unter den Erwartungen.

„Zehnkämpfer waren in Deutschland immer Helden der Nation. Deshalb ist es ein traumhafter Start in die WM“, sagte Clemens Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, und freute sich speziell für Schrader: „Das ist eine besondere Story und für ihn nach so langer Durststrecke ein Triumph.“ Es ist die erste WM-Medaille für einen deutschen Mehrkämpfer, nachdem Frank Busemann zuletzt vor 16 Jahren in Athen Bronze umgehängt bekommen hatte.

Im Speerwurf beließ es Schrader bei einem Versuch – der es in sich hatte

Für Schrader lautete die Erfolgszahl an diesem sonnig-heißen Wochenende „40 Prozent“: In vier der zehn Disziplinen (400 Meter, Hochsprung, Diskus, Speer) gelangen dem 26-Jährigen persönliche Bestleistungen. Seine 8670 Zähler als Karrierebestwert kommen zudem on top. So etwas nennt man wohl „auf den Punkt fit.“

Spätestens nach dem Diskuswurf am Sonnabendvormittag, der siebten Disziplin, begann es Schrader zu dämmern, dass das hier und heute sein Tag werden könnte: „Meinen Beinen geht es gut. Ich hatte keine Krämpfe. Das habe ich sonst immer.“ Um kein Gesundheitsrisiko einzugehen, ließ er es im Hochsprung mit vier Versuchen („Sonst hätte ich mein Knie komplett kaputt gemacht“) und im Speerwurf mit einem Versuch bewenden. Dieser Wurf hatte es aber in sich: Der Speer flog auf 65,67 Meter, 1,63 Meter weiter als je zuvor.

Vier Jahre lang hatte er zwischen 2009 und 2013 keinen einzigen Zehnkampf beenden können, Verletzungen setzten ihm zu. Insofern ist der unerwartete Erfolg nun in Moskau Genugtuung und Belohnung zugleich. „Wer hätte nach all den Verletzungen, die ich hatte, gedacht, dass ich in der Lage wäre, meinen Wettkampf so exzellent durchzuziehen?“, fragte Schrader rhetorisch in die Runde.

Rico Freimuth, sein WG-Mitbewohner in Halle (Saale), hatte schon recht, als er sagte: „Die Medaille hat sich Michael weiß Gott verdient.“ Für das Nationalteam ist es die erste bei diesen Weltmeisterschaften. Am Gewinn einer weiteren scheiterte Diskuswerferin Nadine Müller. Als Vierte mit 64,47 Meter fehlten ihr hinter Olympiasiegerin Sandra Perkovic aus Kroatien (67,99), der Französin Mélina Robert-Michon (66,28) und der Kubanerin Yarelys Barrios (64,96) 49 Zentimeter auf Bronze. „Ich bin nicht unzufrieden“, resümierte Müller, „schaue aber mit einem kleinen weinenden Auge aufs Treppchen.“ Auch sie hatte im Frühjahr schließlich mit einer Verletzung zu kämpfen gehabt.