Trotz der Erfolge bei den Paralympics: Die Einteilung und Zusammenlegung von Behindertenklassen sorgt für Ärger und Widerstand unter den Aktiven.

London. Hannelore Brenner richtete ihren Blick auf die Anzeigetafel und konnte ihr Glück kaum fassen. Die nach einem Reitunfall querschnittgelähmte Dressurfavoritin setzte sich gestern trotz eines Punktabzugs mit "Women of the World" im Greenwich Park von London souverän gegen die Konkurrenz durch und gewann Gold. Dabei war Brenner während ihres Rittes ein riesiger Patzer unterlaufen: Die 49-Jährige aus Wachenheim in Rheinland-Pfalz musste das Schiedsgericht fragen, welche Schrittfolge als Nächstes drankam. Am Ende ging aber alles gut.

Überschattet wurde der Triumph einzig und allein von der hitzigen Debatte um die Einstufung der Handicaps und Klassifizierungen. Bei vielen Athleten regt sich Ärger und Widerstand. Trotz seiner famosen 7,35-Meter-Weltrekordweite und Gold im Weitsprung übt nicht zuletzt der Leverkusener Prothesenathlet Markus Rehm Kritik an den Regularien der Paralympics - und er ist nicht der Einzige. "Das ist nicht okay, das muss in Rio besser werden", meinte Rehm. Deutlichere Worte fand der deutsche Chef de Mission. "Das ist Mist", sagte Karl Quade.

Worum geht es? Wegen mangelnder Athletendichte werden bei den Spielen verschiedene Behindertenklassen zusammengefasst. So laufen etwa auf den Sprintstrecken der Leichtathletik, die von Südafrikas Superstar Oscar Pistorius dominiert werden, Ober- und Unterschenkelamputierte gemeinsame Rennen.

+++ Brenner reitet zu Gold - Streit um Behinderungen +++

In welche Klasse ein Sportler kommt, entscheiden Ärzte und Physiotherapeuten des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) am Beginn einer Behindertensportlaufbahn. Verband und Athlet können die Entscheidung im Laufe einer Karriere öfter anfechten und eine neue Untersuchung beantragen. Unbehagen gibt es bei den Wettkämpfen der Sommer- und Winterspiele aber vor allem deshalb, weil die Resultate von einem Punktesystem abhängen - mathematisch errechnet anhand von Leistung und Behinderungsgrad. Das hat zur Folge, dass Rehm im Weitsprung quasi unschlagbar war und Marianne Buggenhagen die Kugel 82 Zentimeter weiter stieß als Yang Liwan, hinter der Chinesin aber nur Silber gewann. "Ich hätte ungelogen den Nicht-Behinderten-Weltrekord springen können und hätte nicht gewonnen", sagte Silbermedaillengewinner Wojtek Czyz. Und auch Quade fand deutliche Worte: "Das ist pervers, dass die Ober- und Unterschenkelamputierten zusammen springen." 2004 und 2008 hatte Czyz noch jeweils Gold geholt - und auch 2012 fühlt er sich als Sieger. "Die können ja zusammen springen, müssen aber einzeln gewertet werden. Die Sportler sind einfach viel professioneller geworden, das geht nicht mehr", forderte Quade, Vizepräsident Leistungssport beim Deutschen Behindertensportverband (DBS). Die deutsche Teamführung habe während der Spiele bis zum 9. September in der britischen Hauptstadt noch ein Treffen mit anderen führenden Nationen, um die Probleme zu diskutieren. Bei der Thematik geht es nicht nur um Anzahl und Zusammenlegung der Klassen, sondern auch um die Einteilung der Sportler in ebenjene Gruppen. Wenn Michael Teubert darüber spricht, gerät der Bayer in Rage. Der mehrmalige Weltmeister hat "die Schnauze voll", vor allem vom Radweltverband UCI, der ihn seiner Meinung nach in eine Klasse verbannt hatte, in der er kaum Chancen hat. "Ich habe es nicht nötig, mich von Funktionären schikanieren zu lassen", schimpfte der Routinier, der nun sogar seine Karriere beenden will.

Anfechten oder sich mit seiner Klassifizierung abfinden: Vor der Entscheidung stehen viele Sportler bei den Paralympics. Die querschnittgelähmte Schwimmerin Kirsten Bruhn aus der Nähe von Neumünster muss gegen Rivalinnen antreten, die ihre Beine zum Teil einsetzen können. "Es ist müßig, über die Klassifizierung zu diskutieren", meinte die mehrmalige Weltmeisterin und Paralympics-Siegerin der Jahre 2004 und 2008. "Ich bin in eine Klasse eingeteilt worden - Ende."

Trotz aller Diskussionen um die Fairness der Startklassen gab es am vergangenen Wochenende allerdings auch Grund zur Freude im deutschen Team. Bei ihren sechsten Spielen durfte die Behindertensportikone Marianne Buggenhagen am Sonnabend über ihre insgesamt 13. Medaille jubeln: Mit 59 Jahren belegte die Kugelstoßerin Platz zwei. Stunden zuvor hatten die Dressurreiterinnen Britta Näpel und Angelika Trabert Silber und Bronze gewonnen. Den starken Wettkampftag komplettierten die beiden 200-Meter-Sprinter Heinrich Popow und Claudia Nicoleitzik mit zwei Bronzemedaillen.

Und auch gestern sammelten Deutschlands Athleten fleißig Edelmetall. Der gemischte Rudervierer mit dem Hamburger Kai-Kristian Kruse sicherte sich Silber. Das mit je zwei Frauen und zwei Männern besetzte Boot mit Steuerfrau Katrin Splitt (Berlin) kam nach 3:21,44 Minuten und damit 2,06 Sekunden hinter dem siegreichen Gastgeber Großbritannien ins Ziel. Erfolgreich war zudem Tischtennisspieler Jochen Wollmert. Der 47-jährige Solinger, der bereits in Sydney 2000 und Peking 2008 im Einzel triumphiert hatte, setzte sich im Finale gegen William Bayley aus Großbritannien mit 3:1 (11:8, 4:11, 11:5, 11:4) durch und gewann Gold. Zuvor hieß es: Bronze für Thomas Schmidberger. Der querschnittgelähmte Plattlinger bezwang im kleinen Finale den Franzosen Florian Merrien mit 3:1 (7:11, 11:7, 12:10, 15:13).