Ludwig Guttmann, deutscher Neurologe, führte gelähmte britische Soldaten 1948 zum ersten Bogenschieß-Wettkampf

London. Die Patienten wurden nicht auf Tragen gebracht, sondern lagen bereits in Särgen, weil man glaubte, sie würden ohnehin in Kürze sterben. Es waren Soldaten, die an der Front Schüsse in den Rücken bekommen hatten und querschnittsgelähmt waren. Doch der Neurologe Ludwig Guttmann (1899-1980) am Krankenhaus im englischen Stoke Mandeville wollte sie nicht aufgeben. Sein Kampf um diese Patienten wurde belohnt: Mit 14 von ihnen veranstaltete er am 29. Juli 1948 den ersten Wettkampf für Rollstuhlfahrer im Bogenschießen - an genau jenem Tag, als die Olympischen Spiele in London eröffnet wurden. Es war die Geburtsstunde der Paralympics, die von morgen an - ebenfalls in London - zum 24. Mal ausgetragen werden.

1899 in Breslau geboren, hatte Guttmann nach dem Medizinstudium als Neurologe unter anderem an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Hamburg gearbeitet. Später wurde er Leiter eines jüdischen Krankenhauses in Breslau, wo er in der Pogromnacht von 1938 mehr als 60 Juden das Leben rettete. Er nahm sie als Patienten auf und erdachte für sie Krankheiten, als die Nationalsozialisten sie zum Abtransport in ein Konzentrationslager abholen wollten.

Doch dann flüchtete Guttmann wegen seines jüdischen Glaubens nach England. 1944 wurde er Leiter einer neuen Abteilung für Rückenmarksverletzte im Stoke-Mandeville-Krankenhaus bei Aylesbury. Die meisten seiner Patienten dort waren ebenjene Soldaten mit Schussverletzungen im Rücken. Guttmanns Tochter Eva Loeffler schildert in einem BBC-Interview: "Sie waren von Kopf bis Fuß in Gips, was bei vielen furchtbare Druckstellen verursachte." Ihr Vater habe den Gips nach seiner Ankunft sofort abgeschafft. "Er war davon überzeugt, dass seine Patienten wieder ein normales Mitglied der Gesellschaft werden sollten."

Dabei spielte nicht zuletzt sein Glaube eine Rolle. "Als Jude konnte er sich in andere Minderheiten hineinversetzen. Und Behinderte gehören zu einer Minderheit", sagt seine Tochter heute. "Das spornte ihn an, ihnen zu helfen, und veränderte ihr Leben."

Guttmann wollte nicht akzeptieren, dass selbst die fittesten Soldaten innerhalb weniger Wochen an einer Querschnittslähmung starben, weil sie schlecht versorgt wurden. Er nutzte den Sport als Rehabilitation. "Er erkannte, dass sich mit Sport die Muskeln einsetzen lassen, die die Patienten noch hatten", sagt seine Tochter. Und so ließ er sie Bogenschießen trainieren und Tischtennis spielen.

Waren die Briten beim ersten Rollstuhlwettkampf 1948 noch unter sich, wurden die Stoke-Mandeville-Spiele bereits 1952 international: Ehemalige niederländische Soldaten traten gegen Rollstuhlfahrer aus England an. 1960 wurden die Spiele dann in Rom ausgetragen, demselben Ort, an dem im selben Jahr auch die Olympischen Spiele stattfanden.

Guttmann besuchte Rehabilitationszentren und hielt Vorträge in ganz Europa, den USA und Lateinamerika, wurde Ehrenmitglied zahlreicher Neurologischer Gesellschaften in aller Welt. Seinen ersten Deutschlandbesuch nach dem Krieg machte er übrigens in Hamburg, wo er 1955 auf einem Kongress der deutschen Neurologen und Psychiater einen Vortrag "Über die Rehabilitation Querschnittsgelähmter" hielt. 1966 schlug Königin Elizabeth II. Guttmann zum Ritter. 1980 starb der Arzt im Alter von 80 Jahren. Etliche deutsche Städte benannten Straßen nach ihm.

In diesem Jahr erinnert sich Großbritannien anlässlich der in London beginnenden Wettkämpfe - inzwischen in 22 Disziplinen - wieder an den Begründer der Paralympics: Das jüdische Museum in London widmet dem Arzt derzeit eine Ausstellung. Aber auch seiner Tochter, die als Physiotherapeutin arbeitete und sich ihr Leben lang der paralympischen Bewegung verbunden gefühlt hat, wurde eine besondere Aufgabe in Gedenken an ihren Vater übertragen: Vor wenigen Tagen wurde sie zur Bürgermeisterin des paralympischen Dorfes ernannt.

Die BBC würdigte den Arzt mit einem Film zur besten Sendezeit. "The Best of Men" über das Leben Ludwig Guttmanns hatte hohe Einschaltquoten. Drehbuchautorin Lucy Gannon ist davon überzeugt, dass Guttmann wollte, dass auch behinderte Sportler bei den Olympischen Spielen antreten können. "Es wäre wunderbar, wenn in 20 Jahren die Paralympics in die Olympischen Spiele integriert würden", sagte sie der BBC. Guttmanns Erbe sei für sie erst dann erfüllt, wenn es die Paralympics nicht mehr gebe. "Je früher, desto besser."