Dank zweier genialer Momente von Jan-Philipp Rabente gewinnen Deutschlands Hockeyherren wie 2008 in Peking erneut Gold.

London. Der rote Bus Nummer M-311 stand abfahrbereit auf Bussteig A5 vor dem Medien- und Sendezentrum des Olympiaparks, als plötzlich Michael Schirp aufgeregt in der Fahrertür stand. Ob er noch einen Moment warten könne, bat der Pressesprecher des Deutschen Olympischen Sportbundes den verwunderten Fahrer: 16 Olympiasieger bräuchten noch dringend eine Mitfahrgelegenheit, ihr Bus habe keinen Einlass auf das Gelände bekommen.

+++ Wie viele Hamburger spielen eigentlich Hockey? +++

+++ "Diese Mannschaft liegt auf einer Wellenlänge" +++

+++ Gold für Deutschlands Hockey-Herren - 2:1 gegen Niederlande +++

Nach kurzem Zögern erklärte sich der Fahrer einverstanden, nicht ohne sich mit einem Anstecker der deutschen Mannschaft bestechen zu lassen. Etwa zehn Minuten vergingen, es war inzwischen 23.35 Uhr am Sonnabend. Dann wurde der Doppeldecker, der eigentlich müde Pressevertreter aus aller Welt zu ihren Hotels in den Londoner Docklands fahren sollte, von klatschenden und singenden deutschen Hockeynationalspielern geflutet. Es war der etwas verzögerte Start in einen verdienten Feier-Abend. Dazu später mehr.

Die Mannschaft hatte geschafft, was viele nach der holprigen Vorrunde schon ausgeschlossen hatten: Sie hatte ihren Olympiasieg von Peking 2008 wiederholt. Mit 2:1 hatte sie im Finale jene Niederländer besiegt, die zuvor wie im Rausch durch das Turnier getanzt waren und die Deutschen noch sechs Tage zuvor mit 3:1 schwindelig gespielt hatten. "So gut haben wir selten gespielt", sagte Oliver Korn. Der Mittelfeldmann des Uhlenhorster HC hatte den Olympiasieg in Peking nur als Tribünengast erlebt, weil er vor der Finalrunde erkrankt war. "Seither habe ich von diesem Moment geträumt."

Zwei geniale Momente von Jan-Philipp Rabente hatten den Traum wahr werden lassen. In der 33. Minute umdribbelte der Mülheimer scheinbar mühelos zwei Gegenspieler und lupfte den Ball im Fallen ins lange Eck zum 1:0. Das hätte sogar Deutschlands Toptorjäger Christopher Zeller dem defensiven Mittelfeldmann nicht zugetraut: "Wie Rabi die Holländer da frischgemacht hat und dann noch den Ball reinchippt, das war schon krass."

Vielleicht noch krasser war das Siegtor fünf Minuten vor Schluss - der niederländische Torschützenkönig Mink van der Weerden hatte zuvor nach einer Strafecke mit seinem achten Turniertreffer ausgeglichen (54. Minute). Wieder wühlte sich Rabente durch den Schusskreis und suchte den Abschluss, diesmal vergeblich. Er wollte es nicht wahrhaben und hob die Hand zum Zeichen, dass ein Niederländer den Ball mit dem Fuß abgewehrt habe, was eine Strafecke zur Folge gehabt hätte.

Irgendwann sah Rabente ein, dass alles Reklamieren nicht zum Erfolg führen würde. Er lief ums niederländische Tor herum, und kaum dass er wieder aufs Spielfeld kam, rollte ihm eine harte Hereingabe Tobias Haukes entgegen, des Manns vom Harvestehuder THC. Rabente hielt geistesgegenwärtig den Schläger hin - 2:1. "Es war Schicksal, dass ich heute zweimal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war", sagte der Mann des Abends. Rabente hatte zuvor in 77 Länderspielen sechs Tore erzielt. Und nun, in seinem größten Spiel, gleich zwei. Er war sich aber sicher: "Jeder von uns hätte den reingemacht."

Erst nach dem Spiel dämmerte den Beteiligten, dass das Siegtor gar nicht hätte zählen dürfen. Im internationalen Regelbuch heißt es unter Punkt 9.14: "Spieler dürfen nicht absichtlich das Tor betreten, das ihre Gegner verteidigen, oder hinter eines der beiden Tore laufen." Entweder war den Schiedsrichtern Rabentes Schleichweg entgangen. Oder sie kannten die Regel nicht, was in Anbetracht der Reformfreudigkeit dieses Sports nur verzeihlich wäre. Jedenfalls blieb der Videoobmann untätig. Er hätte das Tor annullieren können.

Die Niederländer zuckten hinterher nur mit den Schultern. "Die Deutschen haben super verteidigt", sagte Trainer Paul Van Ass anerkennend. Seine Mannschaft hatte Gastgeber Großbritannien im Halbfinale noch mit 9:2 überrannt. Im Endspiel sei sie zum ersten Mal in diesem Turnier gefordert gewesen, sagte Bundestrainer Markus Weise: "Wir haben sie zum Nachdenken gebracht. Das war nicht einfach."

Die Niederländer werden sich zum Beispiel gefragt haben, woher ihre Gegner die Kraft für eine so knallharte Manndeckung nahmen, warum sie nach dem Ausgleich nicht ins Wanken gerieten, wie man sich überhaupt im Turnier so steigern kann. Moritz Fürste vom UHC, der nun wie Hauke und Korn zweifacher Olympiasieger ist, wusste die Antworten: "Wir haben uns Anfang Juli beim Lehrgang in Utrecht gesagt: Wir können Olympia gewinnen, aber nicht sieben Spiele bei 100 Prozent sein. Deshalb hat uns die Vorrunde nicht umgeworfen." Dann gab der Hamburger einen Einblick in seine Gefühlslage: "Der Sieg ist für uns als Amateure, die wir morgens um acht Uhr vor der Vorlesung in den Kraftraum gehen, unglaublich befriedigend und erfüllend."

Für einen Tag gehörte diesen liebenswerten Amateuren die große Bühne. 5,3 Millionen Fernsehzuschauer erlebten den Triumph live mit. Als die Kameras ausgingen, begann das Nachspiel, erst gesittet im Deutschen Haus, später wild auf der MS "Deutschland". Im Kasino und auf dem Oberdeck wurde auf den Tischen getanzt, Gläser und Mobiliar gingen zu Bruch. Zur Entschuldigung überreichte die Mannschaft Schiffskapitän Andreas Greulich gestern einen Schläger und ein signiertes Trikot. Wer kann da schon böse sein?