Sie gewannen in London 44 Medaillen, mehr als in Peking - und leben von durchschnittlich 626 Euro. Was sind uns sportliche Erfolge wert?

London. Lawrence Okoye hat ein Problem. Er hat es bei Olympia im Diskuswurf ins Finale geschafft. Das war mehr, als man von dem Briten erwarten durfte. Er könnte mit seinen gerade 20 Jahren am Beginn einer großen Karriere stehen. Die Frage ist nur: welcher Karriere? Denn Okoye hat auch einen Jura-Studienplatz an der renommierten Universität Oxford gewonnen. Wäre Okoye ein deutscher Leichtathlet, hätte er vermutlich kein Problem: Er würde den Studienplatz annehmen und weiterwerfen. In Okoyes Heimatland aber ist das praktisch undenkbar.

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29 Goldmedaillen haben die Briten bei ihren Heimspielen in London gewonnen. Sie haben damit Russland vom dritten Platz der stärksten Sportnationen hinter den USA und China verdrängt. Fast alle Erfolge wurden von Berufssportlern erzielt. Pro Jahr pumpt Großbritannien etwa 125 Millionen Euro in den Spitzensport. Der größte Teil stammt aus Lotterieeinnahmen, was sie verlässlich macht. Das Glücksspiel wurde als Geldquelle nach dem blamablen Olympia-Auftritt von 1996 erschlossen, als die britischen Athleten mit einer einzigen Goldmedaille aus Atlanta zurückgekehrt waren. "Damals hat die Regierung realisiert, dass man investieren muss", sagte Bahnradstar Chris Hoy, der in London mit nun sechs Goldmedaillen zum erfolgreichsten britischen Olympioniken der Geschichte aufstieg.

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Der Cottbuser Maximilian Levy gewann im Keirin hinter Hoy Silber. Danach fragte er: "Was ist es Deutschland wert, gute Sportler zu haben? Oder will die Gesellschaft nur noch Fußball und Formel 1 gucken?" Was dem Staat seine Sportler wert sind, lässt sich genau beziffern. In finanzieller Hinsicht liegt die (20 Millionen Einwohner mehr zählende) Bundesrepublik in etwa gleichauf mit dem Vereinigten Königreich: Im Etat des Bundesinnenministeriums wird der Spitzensport inklusive Baumaßnahmen und Dopingbekämpfung mit 130 Millionen Euro bedacht.

Allerdings zehren deutlich mehr Disziplinen von den Mitteln als in England, Wales, Schottland und Nordirland, wo etwa der Wintersport eine untergeordnete Rolle spielt. Die Briten konzentrieren ihre Förderung auf wenige, medaillenträchtige Sportarten. Allein den Radfahrern stehen 33 Millionen Euro zur Verfügung, mehr als zehnmal so viel wie dem deutschen Verband. Die Spitzenkräfte sind de facto Profis und verdienen bis zu 50.000 Pfund im Jahr. Auch die Reiter und die Ruderer wurden intensiv gefördert.

Da gerade diese drei Sportarten traditionell auch deutsche Domänen seien, hätten die Investitionen der Briten einige Goldmedaillen gekostet, klagte Thomas Bach. Der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) sprach dennoch von einem "hervorragenden und glänzenden Auftritt" seiner Mannschaft. Mit 44 Medaillen - elf goldenen, 19 silbernen und 14 bronzenen - habe man das Ergebnis von Peking vor vier Jahren (41/16+10+15) sogar übertroffen, was von den Topnationen sonst eben nur die Briten von sich behaupten könnten. Und auch Generaldirektor Michael Vesper betonte, dass das Ergebnis von 2008 der Maßstab sei.

Diese Klarstellung war wichtig, weil sich am Freitag das Bundesinnenministerium einem Gerichtsentscheid gebeugt und die Zielvereinbarung veröffentlicht hatte, die vor vier Jahren mit den Fachverbänden getroffen worden war. Demnach waren in London bis zu 86 Medaillen angepeilt worden. Das aber sei nie ein konkretes Ziel gewesen, versicherte Bach, weshalb man sich mit dem Begriff "Zielvereinbarung wohl etwas vergriffen" habe. Bach wollte lieber von Fördervereinbarungen sprechen.

Sie beruhen darauf, die Sportarten je nach Potenzial und Talenten finanziell zu unterstützen, statt wie früher die Zuwendungen streng an Erfolge zu koppeln, die teilweise auch noch weit zurücklagen. "Viele Verbände haben profitiert", sagte DOSB-Leistungssportdirektor Bernhard Schwank. So habe man 1,7 Millionen Euro mehr in die Leichtathletik investiert und damit unter anderem zehn Trainerstellen geschaffen, obgleich das Ergebnis in Peking (eine Bronzemedaille) schwer enttäuscht hatte. In London konnten die Leichtathleten sogar die Zielvereinbarung von acht Medaillen erfüllen - das haben sonst nur die Tischtennisspieler und die Turner geschafft.

Mehr Geld könnten die meisten Fachverbände gut gebrauchen. Der DOSB hat bereits 2008 beim Bund angemahnt, die Spitzensportförderung sukzessive um bis zu 47 Millionen Euro jährlich aufzustocken. Nach den Haushaltsentwürfen soll sie im Zuge der Sparmaßnahmen um drei Millionen Euro sinken. Es gehe ums Geld, wenn man auch künftig unter den besten Nationen sein wolle, sagte Bach. Aber nicht nur. Auch Strukturen gehörten auf den Prüfstand. Eher beiläufig streute Bach das Reizwort Zentralisierung ein. Ihn habe es als aktiver Fechter einst vorangebracht, sich beim Training in Tauberbischofsheim mit Weltklasseathleten messen zu können: "Wenn Sie jeden Tag ein kleines Weltcupturnier haben, macht Sie das stärker."

Für diese These scheint der Erfolg der britischen Bahnsportler zu sprechen. Die besten trainieren am Leistungszentrum in Manchester unter knallharten Konkurrenzbedingungen. In London gewannen die Briten wie schon in Peking sieben von zehn Goldmedaillen. Bundestrainer Detlef Uibel würde seine Spitzenkräfte auch gern zusammenziehen: "Die Australier und Franzosen gehen ebenfalls diesen Weg. Daran müssen wir uns orientieren." Jeder Vorstoß in diese Richtung sei aber an den "Eifersüchteleien" der Landesverbände gescheitert.

Auch Schwank ist überzeugt, dass Qualität und Intensität des Trainings entscheidend seien für den Erfolg. In diesem Punkt gebe es etwa bei den Schwimmern offensichtlich Defizite: "Die Wettkampfhärte war nicht ausreichend, um in kurzen Abständen mehrmals Höchstleistung zu bringen." Die Beckenschwimmer sind in London ohne Medaille geblieben. Mehr Training allerdings bedeutet zwangsläufig einen höheren Zeitaufwand. Die Zahl der Medaillengewinner, die neben dem Sport ihre berufliche Ausbildung oder Karriere vorantreiben, nimmt mit jeder Olympiade ab. Mehr als die Hälfte der deutschen Olympiamannschaft ist bei Bundeswehr oder Bundespolizei angestellt und kann sich somit fast ausschließlich auf das Training konzentrieren.

Der selbstständige Athlet aber, der Studium und Sport erfolgreich in Einklang bringt, ohne in den Staatsdienst zu treten, ist auf dem Rückzug. Seine Konkurrenzfähigkeit ist in Gefahr, seine wirtschaftliche Situation oft prekär. Laut einer Studie des Instituts für Sportwissenschaft muss dieser Athlet mit durchschnittlich 1919 Euro brutto im Monat auskommen - inklusive der Förderung durch die private Stiftung Deutsche Sporthilfe, auf die 98 Prozent aller Olympiateilnehmer angewiesen sind. Allein 243 Euro gibt er im Schnitt für den Sport aus. Zum Leben bleiben ihm abzüglich der Fixkosten 626 Euro. Dafür bewältigt er eine 59-Stunden-Woche, wobei der Sport gut die Hälfte des Zeitaufwands beansprucht. Daraus errechnet sich ein Bruttostundenlohn von 7,38 Euro.

Es verwundert nicht, wenn mehr als ein Drittel der Befragten ihre finanzielle Zukunft für nicht abgesichert halten und sogar mehr als die Hälfte erwägt, mit dem Sport aufzuhören. Zugleich, so das Ergebnis einer Untersuchung der Sporthilfe und der Deutschen Sporthochschule, sehen 90 Prozent aller Bürger erfolgreiche Athleten als Vorbilder an. Und zwei Drittel sprechen von Glücksgefühlen, die Medaillengewinne bei ihnen auslösen.

Der Widerspruch wird sich auf die Schnelle nicht auflösen lassen. Vesper mahnte mehr Geld für die Athleten an, nahm dabei aber die Privatwirtschaft in die Pflicht: "Sie muss unsere Talente besser unterstützen", sagte der DOSB-Generaldirektor dem "Focus". Ein DAX-Unternehmen könne doch leicht eine eigene Fördergruppe unterhalten und die Sportler parallel ausbilden.

Mit einer besseren Entlohnung der Sportler ist es nicht getan. Auch das Betreuungspersonal ist in Deutschland offenbar unterbezahlt. Ein Schwimmkadertrainer verdient etwa 3000 Euro - in anderen Ländern ist es leicht dreimal so viel. Die Folge: In den vergangenen Jahren ist viel Know-how abgeflossen. So bereitete der frühere Topsprinter Jan van Eijden die britischen Bahnradsportler auf die Spiele vor. "Wenn du in Deutschland diesen Beruf ausübst, bist du ein seltsamer Vogel", sagt Hockey-Erfolgscoach Markus Weise, "auch daher kommt die Abwanderung."

Australien ist ein mahnendes Beispiel. Bei den Heimspielen von Sydney vor zwölf Jahren kam man mit 58 Podiumsplätzen gleichauf mit China durchs Ziel. Doch seither sind viele Erfolgstrainer abgeworben worden. In London wäre die einstige Sportgroßmacht fast aus der Top Ten des Medaillenspiegels gestürzt, obgleich die Fördermittel nicht gekürzt worden waren.

Übermorgen laufen die deutschen Olympiaathleten um zehn Uhr mit der MS "Deutschland" im Hamburger Hafen ein. Sie werden empfangen und gefeiert werden wie royale Staatsgäste. Dann beginnt für sie der Alltag wieder. Auf eine angemessene Anerkennung ihrer Leistung werden viele vier Jahre warten müssen.