Der 100-Meter-Weltrekordler aus Jamaika wird bei der WM in Südkorea nach einem Fehlstart disqualifiziert. Landsmann Yohan Blake siegt.

Daegu. Usain Bolt wusste gleich Bescheid, schon einen Wimpernschlag nachdem sich sein begnadeter Körper in diesem denkwürdigen 100-Meter-Finale wie eine Rakete aus dem Startblock katapultiert hatte. Als im Anschluss an den Startschuss ein zweiter Schuss ertönte, bleckte Bolt die Zähne, riss sich das Leibchen über den Kopf, und während er unter dem Aufgeheule der Zuschauer auf seiner Bahn austrudelte, formte sich auf seinen Lippen ein saftiges Schimpfwort.

Kurze Zeit später streckte ihm ein südkoreanischer Schiedsrichter im weißen T-Shirt die Rote Karte entgegen, was ein bisschen kurios wirkte, nicht nur weil der Mann sehr klein und Bolt 1,95 Meter groß ist. Sondern auch weil ausgerechnet der vermeintlich Unantastbare einen Fehlstart verursacht hatte. Da verging sogar dem Witz-Bolt das Lachen. 0,104 Sekunden vor dem Startsignal hatte sein Fuß das erlaubte Maß an Druck auf den Block überschritten - und schon hatten die Weltmeisterschaften im Daegu-Stadion ihre erste Sensation. Wenn auch anders als gedacht. Flink flüchtete Bolt anschließend in die Katakomben, vorher griente er noch: "Warten Sie auf Tränen? Das wird nicht passieren. Ich bin okay."

Am Sonnabend war Bolt überlegen durch die Vorrunde gejoggt, das Semifinale am frühen Sonntagabend Ortszeit (7 Stunden plus zur MESZ) überstand er locker-leicht, ein Sieg im Endlauf schien fast Formsache. Wollte Bolt es zu gut machen? Wieder einen draufsetzen? Noch schneller laufen als wahnwitzige 9,58 Sekunden wie bei der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren in Berlin? Es sah so aus.

"Als Usain den Fehlstart produzierte, war ich sooooo überrascht, denn im Training haben wir noch darüber gesprochen - und jetzt passiert es!", sagte ungläubig Yohan Blake, 22, der in Abwesenheit seines jamaikanischen Landsmanns den Weltmeistertitel über die 100 Meter in 9,92 Sekunden gewann. "Ich wusste, eines Tages würde ich ihn herausfordern. Aber ich hatte nicht erwartet, dass es heute passiert." Da war Blake nicht allein.

Silber holte der Amerikaner Walter Dix (10,08), er staunte hinterher: "Bolts Fehlstart war definitiv ein Schock. Ich habe gedacht: Es kann nicht Usain sein - schließlich ist er Usain." Bronze ging vor dem einzigen Europäer im Endlauf, dem dreimaligen französischen Europameister Christophe Lemaitre (10,19), an Kim Collins aus St. Kitts and Nevis (10,09). Mit seinen 35 Jahren verblüffte der Weltmeister von 2003 die versammelte Fachwelt, sah seinen Erfolg aber wie Blake und Dix nicht entwertet. "Jeder will der Champion sein, damit machst du dir einen Namen. Wäre Bolt heute im Finale mitgelaufen, hätte das die Medaillen süßer gemacht. Aber am Ende des Tages", sagte Collins, "waren wir diejenigen, die gelaufen sind. Also haben wir es verdient. Der Start gehört zum 100-Meter-Lauf dazu."

Jetzt, fügte Collins noch hinzu, sei Yohan Blake "The Man". Ausgerechnet einer von mehreren Jamaikanern also, die vor der WM 2009 mit dem Stimulanzmittel 4-Methyl-2-Hexanamin im Urin unangenehm auffielen und mit einer Rüge ihrer Antidopingagentur davonkamen, weil ein Formfehler beim Öffnen der B-Probe vorlag. Abgesehen von seinem flotten Tempo, seiner hochgewachsenen Statur und dem Stiernacken ist Blake ein schlechter Abklatsch Usain Bolts. Man darf ruhig sagen: ein Langeweiler.

Dass der WM nun gleich bei der ersten Sprintentscheidung ihre größte Attraktion flöten gegangen ist, könnte sich unterdessen eher als Segen denn als Fluch erweisen. Hätte Bolt diese Woche nach den 100 Metern auch die 200 Meter - über diese Distanz ist er seit 2007 unbezwungen - und mit der 4x100-Meter-Staffel gewonnen, wäre er zwar der erste Sprinter, dem das beim dritten Großereignis in Folge nach Olympia in Peking und der WM in Berlin gelänge. Aber er hätte womöglich erste Gähn-Attacken verursacht. Schließlich schien er willkürlich ein Gesetz von Sportwettkämpfen außer Kraft zu setzen: dass dessen Ausgang nämlich eine Ungewissheit innewohnt.

Nach der gestrigen Sensation ist vorerst ungewiss, wie der jäh Mensch gewordene Wunderknabe mit dem Scheitern umgeht, das aus einem Grund so frappierend ist: der Eindeutigkeit des Fehlstarts. Verschwörungstheoretiker mögen dahinter Absicht erkennen. Bolts Konkurrenten tun es nicht.

"Ich bin nur froh, dass es mir nicht passiert ist", feixte Kim Collins. "Leute auf der ganzen Welt wollten Bolt sehen, also ist es ein trauriger Moment." Nicht nur dem Sprintveteranen schwant, dass der Weltrekordler am Freitag und Sonnabend im 200-Meter-Wettbewerb zurückschlagen dürfte: "Ich weiß, er ist schwer verärgert."

Bolts Desaster ließ nebenbei - zumindest kurzzeitig - die Debatte um Sinn und Unsinn der aktuell gültigen Fehlstartregel wiederaufflammen. Sie ist in der Vergangenheit immer wieder verschärft worden; zulasten der Sportler, weil zum Teil vier, fünf Fehlstarts zu erheblichen Zeitverzögerungen geführt hatten. Wer inzwischen zu früh zuckt, wird sofort disqualifiziert. Bevor diese Regel kam, sei wenigstens noch ein Fehlstart pro Lauf erlaubt gewesen, erinnert sich Collins. Schelmisch sagte er: "Vielleicht denkt der Weltverband IAAF jetzt ja noch mal darüber nach ..."

Andererseits hat Regel 162.7 ja für alle Welt sichtbar gemacht: Auch Usain Bolt ist fehlbar. Und das ist fürwahr nicht die schlechteste Erkenntnis.