Der Brite gewinnt nach mehr als vier Stunden das Formel-1-Rennen in Montreal. Der Weltmeister rutscht kurz vor dem Ziel aus

Montreal. Vier Stunden und viereinhalb Minuten Formel 1 mit einer Regenpause, in die am Pfingstsonntag locker ein Tatort gepasst hätte. Vier Stunden und dreieinhalb Minuten lang lag Sebastian Vettel beim Großen Krimi von Kanada in Führung. In der letzten Runde, als nach sechs Safety-Car-Phasen das effektive Zeitlimit von zwei Stunden schon abgelaufen ist, unterläuft dem Heppenheimer der einzige Fehler bei dieser erschwerten Konzentrationsübung hinter dem Lenkrad - und genau dieser kostet ihn den schon sicher geglaubten sechsten Sieg im siebten Saisonrennen. Was für ein bitterer Ausrutscher im Feuchtgebiet von Montreal. Regendrama, Zitterpartie, Sensationsrennen - es gibt viele Prädikate für diese Mutprobe der Formel-1-Piloten. Vor allem aber war es die perfekte Sonntagsunterhaltung, nachdem der Ausflug nach Übersee erst mal richtig auf Touren gekommen war. McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh fühlte in der Schlussphase einen Puls von 250.

Vettel spürt in der letzten Runde den McLaren von Jenson Button, der sich nach insgesamt sechs Boxenstopps (Vettel drei) vom letzten auf den zweiten Platz herangeschoben hat, im Nacken. Nur einmal weicht der Heppenheimer für einen Moment von der schmalen, trocken gefahrenen Ideallinie ab. Er dreht sich lediglich um 30 Zentimeter - die Hinterräder blockieren, das Heck des Red Bull gerät ins Schlingern, Vettel fängt es ab, doch da ist der Chrompfeil schon vorbei.

"Hölle, Hölle, Hölle" brüllt Jenson Button nach dem zehnten Sieg seiner Karriere ins Helmmikrofon, später bilanziert er heiser: "Das war das schwierigste und beste Rennen, das ich je gefahren bin." Schon der Start erfolgte hinter dem Safety Car, nach einer halben Stunde und 24 Runden war die Piste völlig überflutet und unfahrbar geworden, erst ab Runde 54 aber wird die volle Punktzahl ausgeschüttet. Spektakuläre Bilder, spektakuläre Aktionen - und die von Vettel schon nach seiner erneuten Poleposition prognostizierte "Reise in die Ungewissheit".

Der knapp geschlagene Weltmeister kämpft nach den 70 Runden auf dem schon im Trockenen brandgefährlichen Circuit Gilles Villeneuve noch einmal, jetzt gegen den Frust: "Das fuchst mich, denn natürlich überwiegt die Enttäuschung, wenn man immer alles im Griff hat, nur ganz zum Schluss nicht, und dann den Sieg aus der Hand geben muss." Die eigentliche Panne ist nicht erst im letzten Umlauf passiert, als der Gegner auf frischeren Reifen nicht mehr zu bändigen war - Red Bull hatte Vettel nicht rechtzeitig angewiesen, seine zuvor komfortable Führung noch weiter auszubauen. "Ich war in der Phase nach dem Neustart zu konservativ", ärgert sich der 23-Jährige, "da hätte ich die Kuh ein bisschen mehr fliegen lassen müssen." Außerdem war offenbar einmal mehr die Zusatzpower des Energierückgewinnungssystems Kers nicht verfügbar - ein Nachteil, der Button durch seinen Geschwindigkeitsüberschuss in den beiden Überholzonen in die Hände spielte.

Trotz dieser Gemengelage der Unzulänglichkeiten hat Vettel, der vor Mark Webber im zweiten Red Bull und Michael Schumacher im Mercedes ins Ziel kam, recht, wenn er behauptet, dass das Rennen "ein wichtiger Schritt mit wichtigen Punkten war". Und in der Tat waren Red Bull unterm Strich die wenigsten Fehler von allen unterlaufen, allerdings die mit den größten Auswirkungen. Vettel: "Deshalb würde ich am liebsten schreien. Wenn man am Limit fährt, dann passiert so was." Als schlechter Verlierer sieht er sich nicht, aber die späte Schlappe dient ihm schon jetzt als Zusatzmotivation für die Zukunft: "Ich bin hier zum Gewinnen, nicht um zu verlieren."

Dabei waren seine bis dahin schärfsten Rivalen Fernando Alonso und Lewis Hamilton - jeweils nach Kollisionen mit Sieger Button - punktlos ausgeschieden. In der Gesamtwertung führt der Titelverteidiger nun mit 161 Punkten vor Button (101) und Teamkollege Webber (94), erst dann folgen Hamilton (85) und Alonso (69). Wie sehr Zahlen doch täuschen können - trotz aller Red-Bull-Überlegenheit ist diese Saison keineswegs eine langweilige, der aus dem Regen-Chaos sprießende kanadische Grand Prix ist ein Musterbeispiel dafür. Triumphator Button wurde fast von seinem Teamkollegen Hamilton aus dem Rennen torpediert, er musste sich nach einer Strafe wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung hinter dem Schwerstarbeit leistenden Safety-Car-Piloten Bernd Mayländer von ganz hinten nach vorn durchs Feld pflügen ("Das war so gut wie ein Sieg").

Derweil bekommt McLarens Ober-Mac Ron Dennis Oberwasser und tönt jetzt sogar im Namen der versammelten Jagdgesellschaft: "Sebastian Vettel ist nicht unbezwingbar." Richtig ist: Alle machen Fehler.

Extreme Bedingungen kommen den extremen Charakteren unter den Fahrern entgegen. Und denen, die bei aller Aggressivität das Gehirn eingeschaltet lassen. Button, Vettel, Webber und Schumacher, aber auch der lange auf Podiumskurs fahrende Japaner Kamui Kobayashi (am Ende Sechster) im Sauber haben die Aufgabe im Blindflug - von vorne Gischt, nach hinten keine Sicht - bravourös gemeistert. Mehrfach stand der Grand Prix von Kanada kurz vor dem Abbruch.

"Das waren unglaublich emotionale vier Stunden", bilanziert Sieger Button, und der Film, der hinter seiner Stirn abläuft, ist ihm förmlich an der Stirn abzulesen - Rain Man. Mit dem Schlusssatz: "Manchmal war ich im Nirgendwo, dann im Irgendwo, wieder im Nirgendwo und schließlich im Irgendwo." Irgendwo da, wo oben ist.