Liebe und Ehrgeiz hat Trainer Jürgen Klopp von seinem Vater. Ein Besuch bei Dortmunds Trainer vor dem Spiel beim Hamburger SV.

Dortmund. Einmal hat Jürgen Klopp den Mainzer Kardinal Karl Lehmann interviewt. Sie haben über Gott und die Welt gesprochen. Und zeitweise war es so, dass der katholische Kirchenmann von dem gläubigen evangelischen Bundesliga-Trainer mehr wissen wollte als umgekehrt. Klopp sagt, dass er sich auf das Gespräch nicht groß vorbereitet habe, weil es ihm ja nicht um Fragen des Zölibats oder der Pille gegangen sei. Sondern um den Menschen hinter dem Würdenträger und dessen ganz besonderen Lebensweg, den sich Klopp für sich selbst "null Komma null" hätte vorstellen können.

Jetzt stimmt die Rollenverteilung wieder. Pressekonferenz in Dortmund. Oben Jürgen Klopp, 43. Unten die Journalisten, 30. Ein vergnügtes Frage-und-Antwort-Spiel ist das jedes Mal mit hohem Unterhaltungswert. Die besten Szenen schaffen es regelmäßig auf die Internet-Plattform YouTube, erreichen dort im Nu sechsstellige Klickzahlen und sind längst Kult.

Würde hier die deutsche Meisterschaft entschieden, wäre der Titel den Dortmundern nicht mehr zu nehmen.

Vor der Partie gegen Mainz will ein Journalist wissen, ob das ein besonderes Spiel für den BVB-Trainer gegen seinen alten Klub sei. Eigentlich eine verbotene, weil 08/15-Frage. Wie immer hat Klopp die Antennen weit ausgefahren. Der verbale Schlagabtausch ist genau sein Ding. Er lächelt. Er ist wachsam, aber nicht misstrauisch. Er mag Menschen. "Es ist ein sehr besonderes Spiel für uns", sagt Jürgen Klopp, "weil es das Einzige an diesem Wochenende ist, an dem wir beteiligt sind."

Da sitzt ein Trainer, der sichtbar Spaß hat an dem, was er täglich tut. Der beim Weg auf den Gipfel locker geblieben ist. Und die Angreifer gleichzeitig hochkonzentriert in Schach hält. Der keiner Situation aus dem Wege geht, niemandem ausweicht und in jedem Moment für eine Überraschung gut ist. Genau so spielt seine junge Mannschaft in dieser Saison auch Fußball.

Nach dem 4:1-Sieg gegen Hannover bleiben den Schwarz-Gelben noch sechs Spiele, um nach einem desaströsen Börsengang und finanziellen Turbulenzen, nach einem sportlichen Absturz und endlosen neun langen Jahren ohne Titel wieder die Meisterschaft feiern zu können. Vergessen die Zeiten, als Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke im Frühjahr 2005 angesichts von 122 Millionen Euro Schulden beim Commerzbank-Chef Martin Blessing bettelte: "Sie wissen, der BVB liegt auf der Intensivstation ..." Und Blessing ihn unterbrach: "Tut mir leid, aber der BVB liegt im Vorraum der Pathologie."

Sechs Jahre später ist der todkranke Patient so lebendig wie vielleicht nie zuvor seit dem vierten Adventssonntag 1909, als 18 junge Stahlarbeiter und Bergleute im Wirtshaus Zum Wildschütz die Gründung der Borussia beschlossen. Die Champions-League-Teilnahme ist quasi garantiert, die jüngste Elf der Liga hat sieben Punkte und fast 20 Tore Vorsprung auf Leverkusen, dazu ein Restprogramm mit Heimspielen gegen Freiburg, Nürnberg und Frankfurt - bereits jetzt befindet sich eine Region im Ausnahmezustand.

Bei einem Sieg in Hamburg werden sie auch das bisher verbotene Wort in den Mund nehmen. Zumal Leverkusen in einer Woche in München antreten muss. Der junge Mittelfeldrenner Kevin Großkreutz, 22, war schon nach dem 4:1-Triumph gegen Hannover vorgeprescht: "Wir wollen Meister werden. Wer es jetzt nicht sagt, ist bekloppt."

Der 1,91 Meter große Wunderheiler, der für die Umwandlung des Pleitevereins zum Titelaspiranten zweieinhalb Jahre brauchte, sitzt in einer Loge im Dortmunder Signal-Iduna-Park und erzählt von Norbert Klopp. Seinem Vater, der vor zehn Jahren im Alter von 68 Jahren an Krebs gestorben ist. Klopp sagt, dass sein Vater mit ihm morgens auf den Sportplatz gegangen sei, dann hätten sie sich auf die Grundlinie gestellt, der Vater hab ihm immer den maximal möglichen Vorsprung gegeben - und ihn jedes Mal eingeholt. "Das war weit davon entfernt, dass es Spaß gemacht hat." Sie haben das so lange gemacht, bis der Sohn schneller war.

Sie haben zusammen in der ersten Tennismannschaft des SV Glatten Doppel gespielt. Einmal hat der Sohn ein Spiel abgebrochen, weil sein Vater einen Sonnenstich hatte und Schüttelfrost und trotzdem weiterspielen wollte. Er hat ihn nach Hause gefahren und ins Bett gesteckt. "Und er hat gezittert unter der Decke", sagt Jürgen Klopp.

Das seien aber alles Extremsituationen gewesen, sagt er. Alles andere war "voller Liebe". Und er wäre nie der Mensch geworden, der er ist, "wenn ich nicht immer diese Liebe meiner Eltern gespürt hätte". Er sagt, er sei immer ein Sonnenkind gewesen, und glaubt, dass er auch die Fähigkeit, frei daherzureden, von seinem Vater mitbekommen habe. Er nehme das selbst kaum noch wahr. "Wenn man laufen kann, freut man sich ja auch nicht jeden Tag, dass man es kann." Dass er krankhaft ehrgeizig sei, glaubt er nicht.

An der Seitenlinie erkennt man den freundlichen Herrn Klopp, der im TV-Duett mit Günther Jauch als Deutschlands Fußball-Erklärer ein unschlagbarer Quotenhit war, manchmal nicht wieder. Seine Grimassen wirken mitunter, schrieb der "Focus", als müsse er beizeiten eine einschlägige Fachkraft konsultieren. Knapp 40 000 Euro an Strafgeldern musste Klopp, der in Dortmund rund 1,5 Millionen Euro Grundgehalt im Jahr beziehen soll, bisher für diverse verbaler Ausrutscher gegenüber den Schiedsrichtern schon bezahlen.

Seinen Humor kann man nicht maßregeln. Ein bisschen stolz ist Klopp auf ein Wortgefecht mit einem Linienrichter, das ihm seine erste Rote Karte als Trainer einbrachte. "Ich wollte nur wissen: Wie viele Fehlentscheidungen sind erlaubt?", fragte er den gelben Mann an der Linie. Wieso? "Weil, wenn es 15 sind, hast du jetzt noch eine frei."

Mit dieser Mischung aus Frechheit und Leidenschaft ist Borussia Dortmund in dieser Saison an die Spitze der Liga gestürmt. Wie lautet der Plan? "Wir müssen in jedem Spiel die Mannschaft sein, die den höheren Aufwand betreibt." Eine Idee, die im Revier alle mitreißt. "Es hat, gerade im Ruhrgebiet, nichts Ehrenrühriges", sagt Klopp, "mehr arbeiten zu müssen als andere, um erfolgreich zu sein."

Als er nach Dortmund kam, hat Klopp den Leuten "Vollgas-Veranstaltungen" versprochen. Das fiel ihm nicht schwer, denn in seinem Leben gibt es keine Zeitlupe. Sieht man einmal von seiner Abschlussarbeit ab, die der Diplom-Sportwissenschaftler an der Frankfurter Universität über Walking geschrieben hat.

Wenn er überhaupt mal einen Gang zurückschaltet, dann zu Hause. "Da werde ich komplett aufgefangen." Obwohl, ganz ohne Fußball läuft es in seinem Haus in Unna auch nicht ab. Sein Sohn Marc, 22, aus seiner ersten Ehe spielt in der zweiten Dortmunder Mannschaft. Und seine Frau Ulla, 46, die ebenfalls einen Sohn aus erster Ehe hat, verdient ihr Geld, wenn man so will, jetzt auch mit dem runden Leder. Die studierte Pädagogin hat vor zwei Jahren ihr erstes Buch veröffentlicht: "Tom und der Zauberfußball" wurde zum Kinderbuch-Bestseller und soll verfilmt werden. In der Geschichte sammelt ein Lederball Kinder aus der ganzen Welt ein, bis er schließlich ein komplettes Team zusammenhat. Im Grunde macht Jürgen Klopp genau das Gleiche. Was ihn antreibt, ist der Wille, die einzelnen Spieler täglich besser zu machen.

Zum Beispiel einen wie Marcel Schmelzer, 23. Der Linksverteidiger habe sich "jeden Tag auf engstem Raum verbessert und ist sogar noch schneller geworden". Bei Besprechungen, sagt Klopp, "sitzt er mit weit aufgerissenen Augen vor uns. Als hätte er die Dinge, die wir sagen, noch nie zuvor gehört." Oder Sven Bender, 21, "ein fleischgewordener Teamplayer".

Als aus dem Spieler Klopp in Mainz der Trainer Klopp wurde, war er "darauf vorbereitet wie auf nichts sonst in meinem Leben". Er hat in seiner ersten Ansprache an die Mannschaft das gesagt, was auch zehn Jahre später noch zu den Säulen seiner Trainerphilosophie gehört: "Mehr als 100 Prozent gibt es nicht, und ich glaube, dass jeder Bundesliga-Profi bereit ist, 95 Prozent in jedem Spiel zu geben. Mich interessieren die letzten fünf Prozent." Die machen den Unterschied aus, sagt er seinen Spielern. Die gilt es zu aktivieren. Nur fünf Prozent, das kann doch nicht so schwer sein.

In der Vorbereitung auf jede Saison gibt es regelmäßig eine "Klopp-Einheit". Eine Stunde lang Steigerungsläufe, immer mit dem Ball am Fuß. Einen Kilometer laufen, drei Minuten Pause. Insgesamt zehn Kilometer. Wenn danach alle am Boden liegen, ruft er quer über den Rasen, dass jeder freiwillig jetzt noch einen elften Kilometer laufen könne. "Dieser eine Kilometer", sagt er seinen Jungs immer wieder, "wird in der Saison dann den Unterschied zu den anderen Mannschaften ausmachen." Und dann? "Dann erheben sich 98 Prozent und rufen: 'Geil, das schaffen wir jetzt auch noch.'"

Klopp gehört zu der neuen Generation der jungen Konzepttrainer in der Bundesliga. Sie verfügen über eine hohe soziale Kompetenz und setzen bedingungslos auf das Team, dem sich alles unterzuordnen hat. Und auf die Einhaltung von bis zur Ermüdung eingeübten taktischen Spielabläufen. Sie fordern eine enorme Laufbereitschaft und den unbedingten Willen zur Balleroberung. Klopp möchte, "dass von einem Spiel mehr bleibt als das Ergebnis".

Jetzt schwärmen alle von dieser rasanten Art, Fußball zu spielen. Eloquente Motivatoren mit einer offensiven Spielidee wie Tuchel (Mainz), Dutt (Freiburg/Leverkusen) oder Slomka (Hannover) sind plötzlich gefragt. Ottmar Hitzfeld, der sowohl München als auch Dortmund zu Meisterschaften und Champions-League-Sieg geführt hat, sagt heute über Klopp: "Er ist der prädestinierte Bayern-Trainer." Hätte sich im Sommer 2008 Uli Hoeneß durchgesetzt, wäre Klopp schon damals in München gelandet. Aber dann verpflichteten die Bayern den JK aus Kalifornien. Das Experiment mit Jürgen Klinsmann ging ziemlich in die Hose. Das mit JK in Dortmund hat punktgenau gepasst. Und zwar auch deshalb, weil er, wie so gern gekalauert wird, "aus der Not eine Jugend" gemacht hat. Schon vergleichen sie Mario Götze, 18, nach dessen Traumtor gegen Hannover mit Lionel Messi. Da kann Klopp noch so häufig bitten, den Ball flach zu halten. Der Jung-Nationalspieler steht längst auf den Einkaufszetteln europäischer Topklubs. Noch aber klammern sie sich in Dortmund verzweifelt an den Traum von den elf Freunden, bei denen einer für den anderen läuft.

Nach dem Gespräch mit Klopp hat Kardinal Lehmann über den damaligen Mainzer Trainer gesagt: "Ich habe das Gefühl, dass er einen reichen Schatz an Erfahrungen im Umgang mit Menschen hat. Aber auch an Zuneigung. Wenn man das hat, kann man viel in Menschen wecken, viele Kräfte hervorlocken." Klopp selbst schöpft Kraft aus dem Glauben. Das gibt ihm, bei all der Hysterie in dem irrwitzigen Bundesliga-Geschäft, diese fröhliche Gelassenheit. "Irgendwann treffen wir uns alle vor der Tür da oben wieder", hat er einmal gesagt. "Und dann fragen wir uns: Mein Gott, deswegen haben wir jetzt so ein Theater gemacht?"

Eine Trainingseinheit am Abend unter Flutlicht in Dortmund-Brackel. 300 Zuschauer sind bei nasskaltem Wetter auf dem weiträumigen Gelände erschienen, um den Profis beim Dehnen und Sprinten, beim Flanken und Toreschießen zuzugucken. Kurz vor halb neun pfeift Klopp ab. Dann läuft er zu den Fans an der Seitenlinie. Er fängt ganz hinten an. Lässt sich fotografieren, nimmt Kinder auf den Arm, scherzt mit jungen Mädels und schreibt Autogramme auf Arme, T-Shirts und Poster.

Nach exakt 25 Minuten hat er jeden Einzelnen der 300 Fans glücklich gemacht. Am 15. Mai werden auf der A 40 zur Meisterfeier 300 000 Fans erwartet. Dann wird auch der Menschenfänger Klopp an seine Grenzen stoßen.