Fast ein Jahr nach seiner Aufgabe im WM-Kampf gegen Denis Bakhtov geht der Schwergewichts-Profi wieder an die Öffentlichkeit.

Hamburg. Am 27. März 2010 verlor der deutsche Schwergewichts-Boxprofi Steffen Kretschmann in der Sporthalle Hamburg den Kampf seines Lebens . Der 30-Jährige aus Halle an der Saale sollte für den Arena-Stall der neue deutsche Star werden und die Tür für einen Vertrag mit dem TV-Sender Sat.1 öffnen. Doch Kretschmann gab den Kampf gegen den Russen Denis Bakhtov in der neunten Runde auf und verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Seitdem hat er öffentlich nicht geredet – bis heute.

Abendblatt: Herr Kretschmann, warum hat es zehn Monate gedauert, bis Sie Ihr Schweigen brechen?

Steffen Kretschmann: Ich glaube an das Gute im Menschen und hatte bis zuletzt Vertrauen in Arena, dass ich mein Geld bekomme. Aber jetzt will ich nicht länger warten. Ich habe in der vergangenen Woche meine Kündigung eingereicht, und am heutigen Donnerstag werde ich mich arbeitslos melden, weil ich sonst finanziell einfach nicht mehr über die Runden komme. Ich will einen Schlussstrich unter das Kapitel Arena ziehen. Deshalb habe ich mich für den Schritt an die Öffentlichkeit entschlossen.

Was sind die Gründe für Ihre Kündigung? Immerhin lief Ihr Vertrag mit Arena noch bis 2014, und Arena-Chef Ahmet Öner und Geschäftsführer Malte Müller-Michaelis hatten angekündigt, Ihnen einen Kampf anbieten zu wollen.

Kretschmann: Es ist eine außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund, denn das Vertrauensverhältnis ist zerstört, was mehrere Gründe hat. Einer davon ist, dass aus dem Kampf gegen Bakhtov noch immer ungefähr die Hälfte der Börse aussteht. Wir reden von einem mittleren fünfstelligen Betrag. Wie könnte ich also ein Kampfangebot annehmen, wenn ich für einen bereits absolvierten Kampf noch nicht mein Geld erhalten habe?

Im Normalfall erhalten Boxer ihre Börse rund 14 Tage nach dem Kampf. Wie lief das bei Ihnen ab?

Kretschmann: Nach dem Kampf hat Arena mir versichert, dass ich mein Geld bekomme. Ich wurde dann aber immer wieder hingehalten, mit den abenteuerlichsten Ausreden. Mal war ein Konto nicht gedeckt, mal war ein Feiertag, all solche Dinge. Den ersten Teil erhielt ich im September, also fünf Monate nach dem Kampf. Ich habe dann einen Anwalt eingeschaltet, aber seit Oktober habe ich nichts mehr bekommen.

Den Kampf gegen Bakhtov gaben Sie unter dubiosen Umständen auf. Sie lagen in Führung und brachen dann ein, obwohl Sie kaum richtig getroffen wurden. Was war das Problem?

Kretschmann: Ganz einfach, ich hatte nicht in dem Maße trainiert, wie ich es für einen solchen Zwölf-Runden-Kampf hätte tun müssen. Ich merkte schon in der vierten Runde, dass mir alles schwer fiel. Ich spürte zwar, dass Bakhtov mich nicht noch einmal ausknocken könnte, aber nach den ersten Treffern hat mein Kopf gesagt: Das reicht! Ich hatte so etwas nie erlebt, aber mir blieb nichts anderes übrig als die Aufgabe.

Der Kampf war Ihre große Chance. Sat.1 wollte Sie zum neuen deutschen Star aufbauen, Arena wollte Sie zum Weltmeister machen, Sie wollten die Scharte der ersten Niederlage gegen Bakhtov auswetzen, als Sie im Juni 2009 in Runde eins k.o. gegangen waren. Wie kann es da sein, dass Sie nicht ausreichend trainiert in den Ring gingen?

Kretschmann: Das Problem war, dass im Vorfeld des Kampfes diese Dokumentation über meine Vorbereitung und mein Leben auf Sat.1 lief, mit der ich bekannt gemacht werden sollte. Die Dreh-arbeiten dafür haben mich komplett überfordert und unseren Trainingsplan zerstört. Mein Trainer Hans-Jürgen Witte und ich haben mehrfach darauf hingewiesen, dass das Ding schiefgeht, wenn ich nicht ordentlich trainieren kann. Der einzige, der das verstanden hat, war Sat.1-Sportchef Sven Froberg. Aber wir konnten uns gegen die Leute von der Filmfirma, die die Doku gedreht hat, nicht durchsetzen.

Die Dokumentation hat für viel Wirbel gesorgt. Man hatte oft das Gefühl, dass das überhaupt nicht zu Ihnen passte, dass Ihnen die ganze Öffentlichkeit zuwider war. Stimmt das?

Kretschmann: Das ist völlig richtig, ich habe mich damit nicht wohl gefühlt. Es war mir alles viel zu ge-stellt und nach dem Rocky-Klischee aufgezogen. Schon in der Dreh-Besprechung im Dezember 2009, wo be-sprochen wurde, was alles gefilmt werden soll, war mir das nicht recht. Es waren ja noch viel krassere Dinge geplant, die ich dann abgelehnt habe. Zum Beispiel sollte ich mich vor der Kamera mit meiner Freundin streiten. Das tun wir aber im Alltag nicht, habe ich gesagt. Da haben die geantwortet: Steffen, dein Leben ist langweilig, das will keiner sehen. Wir müssen da mehr Schwung reinbringen.

Haben Sie die Arbeit, die da auf Sie zukam, unterschätzt?

Kretschmann: Ja, absolut. Ich dachte, ich packe das schon irgendwie, das kann ja nicht so schlimm sein. Und ich dachte auch, dass man mir für die Doku nicht mein Training gefährdet. Aber dann wurden wir oft erst von neuen Inhalten informiert, als es zu spät war, nein zu sagen. Und Absprachen wurden auch nicht eingehalten, zum Beispiel, dass ich keine Kamera in meiner Kabine haben wollte.

Wann haben Sie gespürt, dass das alles zu viel für Sie ist?

Kretschmann: Als wir in Russland im Trainingslager waren und Regina Hal-mich mich fitmachen sollte. Als ich diese 48-Kilo-Frau auf dem Schlitten durch den Schnee ziehen musste, da dachte ich: Das kann doch jeder, das ist doch völlig gestellt.

Warum haben Sie dann nicht die Not-bremse gezogen und sind ausgestiegen?

Kretschmann: Im Nachhinein bin ich da natürlich klüger und gebe zu, dass ich das hätte tun müssen. Aber das Problem war: Ich wollte dieses Rematch mit Bakhtov unbedingt, weil ich beweisen wollte, dass der erste Kampf ein Ausrutscher war. Den hätte ich damals schon nicht machen dürfen, weil ich die Folgen einer Trommelfell-Operation nicht ausgeheilt hatte. Aber ich wollte keine Ausreden, sondern ihn im Rückkampf besiegen. Und diesen Rückkampf gab es nur unter den Bedingun-gen, die Arena, Sat.1 und die Filmfirma gestellt haben. Deshalb bin ich dabei geblieben.

Haben Sie nicht darüber nachgedacht, was nach einem Sieg gegen Bakhtov weiter auf Sie gewartet hätte? Wären Sie bereit gewesen, ein Star zu sein?

Kretschmann: Es hört sich wie eine Floskel an, aber ich denke nie über den nächsten Kampf hinaus. Ich habe nur an Bakhtov gedacht. Ein Star im Boxring, das ist okay für mich. Ein Star im Fernsehen wollte ich nie sein. Aber mir war nur wichtig, dieses Rematch zu kriegen. Darum ging es.

Als Sie dann in Hamburg in den Ring stiegen, war Ihnen da schon klar, dass Sie den Kampf verlieren würden?

Kretschmann: Nein, da dachte ich noch, dass ich gewinne. Ich wusste, dass ich nicht für zwölf Runden vorbereitet war, aber ich dachte trotzdem, dass ich es durchstehe.

Nach dem Kampf hat Arena-Chef Öner sich sehr despektierlich über Sie geäußert. Er hat Sie freigegeben und gesagt, jeder, der wolle, könne Sie haben, ausstopfen und ins Wohnzimmer stellen. Selbst seine Oma würde Sie schlagen. Was haben Sie gedacht, als Sie das hörten?

Kretschmann: Ich konnte es nicht glauben, es war eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut. Ich verstehe absolut, dass er sauer und enttäuscht war, schließlich hatte er sich erhofft, dass ich der Türöffner für einen Vertrag mit Sat.1 bin. Ich habe nicht das Ergebnis gebracht, das er sich erwartet hat. Aber dann öffentlich so über einen Menschen herzuziehen, mit dem man vertraglich verbunden ist, das finde ich nicht angemessen. Das ist unter der Gürtellinie.

Haben Sie das Gefühl, dass Arena Sie nur benutzen wollte, um den Sat.1-Vertrag zu bekommen?

Kretschmann: Dieses Gefühl habe ich, ja. Ich war letztlich für Arena nur eine Ware, ein Verdienstmittel. Ich wusste, dass das Boxgeschäft hart ist und dass es um viel Geld geht. Aber dass man Menschen einfach so wegwirft, das hätte ich nicht geglaubt. Vielleicht war ich da zu naiv.

Haben Sie sich allein gelassen gefühlt? Hätte nicht auch von Arena jemand merken müssen, dass Sie überfordert waren?

Kretschmann: Ich habe mich, gerade was die Vorbereitung betrifft, schon allein gelassen gefühlt. Andererseits hat mir Arena einen Vorschuss auf meine Börse bezahlt, so dass ich meine Rechnungen begleichen konnte. Insofern gab es auch noch Vertrauen.

Warum haben Sie sich bei Ihrem Wechsel ins Profilager im Herbst 2006 überhaupt für Arena entschieden? Sie sind ein ruhiger, bedächtiger Mensch, der das Rampenlicht meidet, und damit das komplette Gegenteil zu Öner. Nicht wenige haben sich gewundert, dass Sie bei ihm unterschrieben haben.

Kretschmann: Auch da ist man im Nachhinein immer klüger. Bei meinem Wechsel war das Gesamtpaket, das Arena mir geboten hat, einfach das beste. Sie waren nicht nur der Stall, der am meisten Geld geboten hat, sondern sie haben mir auch erlaubt, bei Herrn Witte in Halle weiterzutrainieren. Das war für mich der entscheidende Punkt. Herrn Witte kenne ich seit 14 Jahren, er weiß genau, wie ich ticke, ich vertraue ihm blind. Das wollte ich nicht aufgeben, und Arena hat das akzeptiert. Deshalb habe ich dort unterschrieben. Allerdings war Öner damals ein anderer Mensch, verständnisvoll und irgendwie charmant. Das Geld hat ihn völlig verändert.

Haben Sie seit dem Kampf mit Öner gesprochen?

Kretschmann: Nein, er hat sich schon während der Vorbereitung nie gemeldet und mal gefragt, wie es läuft, und seit dem Kampf haben wir nicht mehr geredet. Das läuft alles über seinen Geschäftsführer.

Was würden Sie tun, wenn Sie ihm zufällig über den Weg liefen?

Kretschmann: Das kann ich nicht sagen, ich weiß es nicht. Ich will aber auch keine Schuldzuweisungen machen. Ich bin an der Situation, wie sie jetzt ist, auch selbst schuld. Dennoch glaube ich, dass mir mein Geld zusteht. Da ich es nicht bekomme, ist jetzt die Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Glauben Sie, dass Öner Sie zur Rechenschaft zieht, wenn Sie jetzt Ihre Kündigung durchziehen?

Kretschmann: Nein, dafür bin ich nicht mehr wichtig genug. Er hat seine Kubaner, mit denen er Geld verdient. Das Thema Steffen Kretschmann ist für ihn seit dem 27. März 2010 erledigt.

Wie waren denn die Reaktionen auf Ihre Aufgabe? Boxer, die aufgeben, werden ja gern als Weicheier verspottet. Wie ging es Ihnen?

Kretschmann: Zum Glück habe ich das kaum erlebt, weder in der Boxszene noch im Freundeskreis. Die, die mich kennen, die wussten, dass da mehr vorgefallen sein musste. Natürlich gibt es in den Internetforen Leute, die auf mich draufhauen und sich über Dinge äußern, von denen sie nichts wissen. Aber auf meiner eigenen Facebook-Seite hatte ich nach meinem Kampf rund 160 Freundschafts-Anfragen, alle wollten mich aufmuntern. Das hat geholfen.

Wie haben Sie denn die Tage nach dem Kampf erlebt?

Kretschmann: Wie in Trance. Als ich aus dem Ring kam, stand meine Freundin vor mir. Sie weinte, weil sie wusste, dass das nicht ich war, der da aufgegeben hatte. Mein Vater und mein Trainer haben mich in der Kabine getröstet, ich bin dann so schnell wie möglich nach Hause gefahren. Ich hatte Freunde aus München zu Besuch, die haben mich dann am nächsten Tag mit meinem Auto nach Halle gefahren, weil ich mich selbst dazu nicht in der Lage fühlte. Und dann lag ich tagelang auf der Couch und habe versucht, abzuschalten. Ging aber nicht gut.

Konnten Sie schlafen?

Kretschmann: Nicht wirklich, mir ging zu viel im Kopf herum.

Wie lange hat es gedauert, bis Sie den Kampf und die Folgen verdaut hatten?

Kretschmann: Ich habe im September ja wieder geboxt, mit Erlaubnis von Arena für einen kleinen Veranstalter aus der Region. Das war allerdings nur ein Aufbaukampf, ich habe klar gewonnen, aber gut war das nicht. Richtig verarbeitet habe ich die Geschehnisse erst im Oktober, als mein erstes Kind zur Welt kam. Das hat mir den entscheidenden Kick gegeben, noch einmal anzugreifen. Seitdem bin ich wieder heiß und fokussiert. Immerhin muss ich Ver-antwortung für eine Familie tragen.

Gab es eine Phase, in der Sie daran dachten, mit dem Boxen aufzuhören?

Kretschmann: Die gab es, im Mai war das. Da habe ich gedacht: Arena hat ja Recht, ich verdiene mein Geld nicht und bin an allem Schuld. Das war eine harte Zeit, ich hatte ein richtiges Burnout. Erst im Juli habe ich realisiert, was da abgelaufen ist. Bis dahin habe ich gar nicht trainiert, sondern nur mit mir zu tun gehabt.

Haben Sie sich fachmännische psychologische Betreuung geholt?

Kretschmann: Nein. Ich hatte schon das Gefühl, dass ich das gebraucht hätte, aber wovon hätte ich es bezahlen sollen? Meine Börse kam ja nicht, und meine Krankenversicherung kostet 700 Euro im Monat. Ich konnte mir das schlicht nicht leisten und habe also versucht, so gut es ging, das Ganze mit mir selbst auszumachen. Meine Familie und meine engsten Freunde haben mich dabei unterstützt.

Was für Auswirkungen hat die nicht gezahlte Börse für Sie? Sie müssen sich arbeitslos melden, haben Sie gesagt.

Kretschmann: Ja, ich kann sonst meine Schulden nicht bezahlen. Ich musste mein Auto verkaufen und auch einige andere Dinge. Aber ich will nicht klagen und hoffe, dass ich dem Staat nicht lange auf der Tasche liege.

Sie haben sich entschieden, weiter boxen zu wollen. Warum?

Kretschmann: Weil ich beweisen will, dass es noch geht, und weil ich weiß, dass ich noch etwas erreichen kann. Den Europameistertitel traue ich mir mindestens zu. Ich habe mehrere Angebote und werde nun schauen, welches mir am meisten zusagt. Ich scheue auch nicht, wieder unten anzufangen, wenn es sein muss.

Wenn Sie auf das vergangene Jahr zurückschauen, sehen Sie eine verpasste Chance oder eine wertvolle Erfahrung?

Kretschmann: Beides. Natürlich habe ich die Chance verpasst, oben anzu-klopfen und mir einen Namen zu machen. Darüber ärgere ich mich schon. Aber ich weiß jetzt auch, dass ich so etwas wie diese Doku nie wieder machen werde. Insofern ist das auch eine wertvolle Erfahrung. Natürlich kratzt der Kampf noch an mir, aber ich habe ihn abgehakt. Ich werde beweisen, dass die Pleite gegen Bakhtov den Umständen ge-schuldet war. Und eins kann ich versprechen: Ich werde stärker zurückkommen, als ich es jemals war.