Deutschlands Handballer verlieren verdient 23:30 gegen Frankreich. Heute geht es gegen Tunesien um das Erreichen der WM-Zwischenrunde.

Kristianstad. Silvio Heinevetter lehnte am Pfosten seines Tors wie an einem Tresen und legte einen Gesichtsausdruck auf, als hätte er mit dem Geschehen um ihn herum nichts zu tun. Das entsprach in gewisser Hinsicht ja auch der Wahrheit. Minutenlang flogen dem deutschen Nationaltorhüter die Bälle um die Ohren, ohne dass er Hand oder Fuß auch nur in die Nähe brachte. Und mit jedem Tor der Franzosen dachte sich Heinevetter eine neue Pose der Verzweiflung aus. Mal blieb er nach einem Hechtsprung bäuchlings vor seinem Tor liegen, mal kauerte er vor seinem Pfosten, dann wieder stürmte er übers halbe Feld, als wolle er selbst erledigen, was seine Vorderleute versäumten: ein Tor zu werfen.

"In so einem Spiel musst du kämpfen bis zum Umfallen", sagte der Berliner später, "stattdessen haben wir uns aufgegeben und uns vorführen lassen." Die 23:30-(10:13-)Niederlage gegen den Titelverteidiger geriet nicht nur zur deftigsten der deutschen Handballer seit zwei Jahren. Sie lässt Schlimmes befürchten im Hinblick auf die Olympiaqualifikation, für den der siebte WM-Platz die minimale Voraussetzung ist. Vom Halbfinale zu reden hieße, die Realität auszublenden. Sollte der Weltmeister von 2007 heute sein Gruppenendspiel gegen Tunesien mit mehr als vier Toren verlieren, wäre sogar die Versetzung in die Hauptrunde gefährdet (18.30 Uhr/ZDF live).

Bundestrainer Heiner Brand versuchte, dem spielerischen Insolvenzantrag seiner Mannschaft Worte zu geben. Er sagte: "Mit der ersten Halbzeit kann ich leben. Mit der zweiten bin ich mehr als enttäuscht. So kann man sich nicht hängen lassen, da ist körperliche Präsenz gefragt." Das sagt sich so leicht, wenn einem ausnahmslos Spieler gegenüberstehen, die zwei Meter groß und ebenso breit sind und jedenfalls genau so auftreten. Spieler wie die Welthandballer Nikola Karabatic oder Bertrand Gille, von deren Phänotyp es derzeit kein deutsches Exemplar gibt. "Da bringt jeder Einzelne 20 Kilogramm mehr auf die Waage", klagte Michael Haaß, der Glück hatte, nicht vom Platz zu fliegen, als sich sein Frust in Karabatics Gesicht entlud.

Der HSV-Kreisläufer Gille beobachtete in der zweiten Halbzeit mit einigem Genuss, wie dem deutsche Angriff gegen die zupackende Deckung der Franzosen die Ideen ausgingen: "Sie waren völlig ahnungslos, das war geil zu sehen." Seine Analyse der deutschen Misere klang wie eine knappe Zusammenfassung der Diskussion, die das Handballland seit dem WM-Heimsieg 2007 bewegt: "Da ist keiner mehr auf dem Feld, der sagt, es läuft nicht, wir müssen jetzt etwas ändern."

Brand versuchte es von der Seitenlinie. Er stellte seine Abwehr auf offensiv um - ohne Erfolg. Er schenkte dem Hamburger Spielmacher Michael Kraus das Vertrauen, den er wegen seines schlampigen Auftritts bei der Niederlage gegen Spanien scharf kritisiert hatte. Auf keinen Fall darf man Kraus den Vorwurf machen, es nicht versucht zu haben. Die Frage ist eher, ob der Versuch im einen oder anderen Fall nicht besser unterblieben wäre. Fünfmal nahm Kraus in der ersten Halbzeit Maß, fünfmal stand Torhüter Thierry Omeyer oder der Pfosten dem Erfolg im Weg. Angesichts dieser verheerenden Bilanz musste man es dem Hamburger hoch anrechnen, dass er sich in der 28. Minute überhaupt noch an die Siebenmeterlinie wagte und Omeyer überwand.

Kraus' Tor zum 9:13 beendete eine gut zehnminütige Phase, die in der Rückschau wohl die entscheidende war. Hineingegangen war Deutschland mit breiter Brust und einer 7:6-Führung, heraus kam man mit einem 8:13-Rückstand und in geduckter Haltung. Als Kraus und Lars Kaufmann in der zweiten Halbzeit zu treffen begannen, war es bereits zu spät. Im Spiel heute geht es laut Kraus um nicht weniger als um die "Zukunft des deutschen Handballs. Wir müssen die Hauptrunde erreichen, etwas anderes gibt es nicht."