Es war erst der zweite Sieg gegen ein europäisches Team bei einer WM. Nun könnte Argentinien sogar mit knapper Niederlage in die Hautprunde einziehen.

Kristianstad/Göteborg. Sein deutsches Handy hat Maximiliano Ferro wohlweislich zu Hause gelassen. Die Rechnung wäre für den Studenten am Ende dieser WM einfach zu teuer geworden. Und wahrscheinlich hätte er sonst am Dienstagabend überhaupt nicht mehr in den Schlaf gefunden. Bis drei, vier Uhr morgens haben die argentinischen Handballer Interviews gegeben und den Medien zu Hause die Sensation erklärt. Mit 27:22 (12:10) hatte der krasse Außenseiter den Gastgeber und viermaligen Weltmeister Schweden in der Vorrunde aus seinem Medaillentraum gerissen. „Ein außergewöhnlicher Wurf“, schrieb die Tageszeitung „La Nación“ und zog einen naheliegenden Vergleich mit dem Fußball heran, um ihren Lesern die Dimension des Erfolgs zu verdeutlichen: „Das ist wie ein Sieg gegen Rekordweltmeister Brasilien im Maracanã-Stadion von Rio.“

Seit 1997 gehören die Argentinier zum Inventar bei Weltmeisterschaften. Nur einmal konnten sie ein europäisches Team besiegen: 2003 gelang im Auftaktspiel gegen Kroatien ein 30:29, tags darauf ein Unentschieden gegen Russland. Argentinien schied damals in der Vorrunde aus, Kroatien wurde Weltmeister. Eine Wiederholung dieser Geschichte ist fast auszuschließen. Dank der überraschenden Erfolge gegen die Slowakei (23:18) und Südkorea (25:25) können sich die Argentinier gegen Chile am Donnerstag sogar eine knappe Niederlage erlauben und würden trotzdem mit 2:2 Punkten erstmals in die Hauptrunde einziehen.

„Ich will nicht behaupten, dass wir das erwartet hätten“, sagte Trainer Eduardo Gallardo, „aber dieses Team zeichnet von jeher seine Siegermentalität aus.“ Die Erfolgsgeschichte habe 2007 mit dem vierten Platz bei der Jugend-WM in Bahrain begonnen und sich vor zwei Jahren mit Platz sechs bei der Junioren-WM in Ägypten fortgeschrieben. „Wir haben eine sehr gute Generation von Spielern“, sagt Ferro. Nur scheinen das die Vereine in Europa noch nicht realisiert zu haben.

Elf der 16 Auswahlspieler des Panamerikameisters sind auf dem Alten Kontinent aktiv, die meisten von ihnen in unterklassigen Ligen. Torwart Matías Schulz, 28, der gegen Schweden mit 17 Paraden überragte, hält für den spanischen Zweitligisten Badajoz. Ferro, 25, spielt für den Leverkusener TuS 82 Opladen in der Oberliga Mittelrhein auf Linksaußen. Beim Zweitligisten Korschenbroich hatte er sich zuvor nicht durchsetzen können. Sein Studium an der Sporthochschule Köln finanziert er sich durch einen Nebenjob bei einem Beratungsunternehmen. Um Kosten zu sparen, lebt er in einem Wohnheim auf dem Campus. Wegen der WM hat er das letzte Punktspiel gegen die HSG Marienheide/Müllenbach verpasst. Stattdessen warf er gegen Schweden vor 9044 Zuschauern im Göteborger Scandinavium das vorentscheidende Tor zum 25:21.

„Das war der bewegendste Moment meiner Laufbahn“, erzählt sein Vereinstrainer Patrick Luig, der das Spiel mit der gesamten Mannschaft im Fernsehen verfolgte: „Wir haben vor Freude fast die Bude auseinandergenommen.“ Ferro sei gewiss kein gewöhnlicher Oberligahandballer: „Mit dem richtigen Trainer wäre Maxi für jeden deutschen Zweitligisten eine Verstärkung.“

Es wäre ganz im Sinne des argentinischen Verbandes. Er hofft, möglichst viele Spieler in europäische Klubs vermitteln zu können. Denn auch wenn der Handball als Schulsport beliebt ist: Der Spielbetrieb im Fußballland Argentinien ist international nicht konkurrenzfähig. „Uns fehlen professionelle Strukturen wie in Spanien oder Deutschland“, sagt Ferro, „ich hoffe aber, dass die Handballfamilie dank unserer Erfolge ein bisschen größer wird.“ Noch in diesem Monat tritt ein Ausbildungsprogramm für Spieler, Trainer und Schiedsrichter in Kraft, das der panamerikanische mit dem spanischen Verband im November vereinbart hat. Das europäische Know-how soll dem Handball in Übersee dauerhaft auf die Sprünge helfen.

Nur die Nationalmannschaft funktioniert unter professionellen Bedingungen. „Wir können uns trotz der Wirtschaftskrise im Land nicht beklagen“, sagt Gallardo, „unsere WM-Vorbereitung war einwandfrei.“ Sie zahlt sich nun auch gegen besser besetzte Mannschaften aus. In der leichtfüßigen argentinischen Abwehr liefen sich die schwedischen Rückraumspieler ein ums andere Mal fest. Den Rest erledigte der deutschstämmige Torhüter Schulz.

Wohin die argentinische Traumreise im hohen Norden noch führt, vermag sich Ferro nicht auszudenken. Sie hätten schon jetzt mehr erreicht, als sie zu hoffen wagten. Luig wird am Samstag im Ligaspiel bei der zweiten Mannschaft des TSV Bayer Dormagen auf jeden Fall noch einmal ohne seinen Top-Linksaußen auskommen, „aber der Schmerz darüber ist nicht so groß wie der Stolz auf den Jungen“. Im Sommer wird Ferro sein Studium beenden. Was danach kommt? Ferro weiß er nicht. Er hofft inständig auf das Angebot eines Profiklubs. Eine bessere Bewerbung hätte er nicht abgeben können.