Heiner Brand spricht drei Wochen vor dem WM-Start im Interview mit dem Abendblatt über den HSV, das Nationalteam und die Folgen des WM-Booms.

Hamburg. Alle Jahre wieder steht Heiner Brand vor einem Problem. Im Januar steht ein großes Handballturnier an, und es gilt für den Bundestrainer, den Kader seines Vertrauens zu finden. 28 Spieler hat Brand, 58, vorläufig für die WM in Schweden nominiert. Zwölf von ihnen muss er bis zum Turnierbeginn am 13. Januar von der Liste streichen. Das Testspiel gegen den WM-Gastgeber in Hamburg am 3. Januar (16.45 Uhr, O2 World/ARD) wird eine wichtige Entscheidungshilfe sein.

Hamburger Abendblatt: Herr Brand, der HSV stellt mit sechs Spielern den Kern des WM-Aufgebots, ist Tabellenführer der Bundesliga und Zuschauerkrösus. Spielen Sie am 3. Januar in der neuen deutschen Handballhauptstadt?

Heiner Brand: Das kann man nur werden, wenn man auch deutscher Meister ist. Ein paar Zuschauer mehr als der THW Kiel machen noch nicht den Unterschied aus. Die Tradition des THW ist erdrückend. Aber in Hamburg ist binnen kurzer Zeit Erstaunliches passiert. Dass der Handball sich hier etabliert hat und einen hohen Zuspruch erfährt, dass auch Prominente zu den Spielen kommen, all das war vor einigen Jahren noch unvorstellbar. Insofern ist man auf einem tollen Weg. Aber zur Handballhauptstadt fehlt ein wenig Tradition.

Das mit der Meisterschaft könnte sich bald ergeben.

Die Chance ist da. Die Saison ist zwar noch lang, die Hamburger machen mir aber einen stabileren Eindruck als in den vergangenen Jahren.

Wenn wir Ihre kritischen Äußerungen richtig verstehen, reichen Ihnen sechs Nationalspieler vom HSV gar nicht aus.

Sechs Nationalspieler sind eine erfreuliche Zahl. Mir liegt nur daran, dass alle Bundesligamannschaften auch Spieler entwickeln, damit wir eine breitere Auswahl haben. Es ist aus meiner Sicht die Voraussetzung dafür, dass der deutsche Handball auf Dauer in der Spitze ist.

In Ihrem Kader finden sich doch einige junge Spieler.

Auf Außen haben wir keine Probleme, auf den zentralen Positionen aber schon. Nehmen Sie Henning Fritz: Er hat seine Nominierung als vierter Torhüter durch überragende Leistungen in der Vergangenheit gerechtfertigt. Aber er ist 36. Und wenn ich überlege, wer sonst infrage käme, fallen mir nicht viele ein. Es kann nicht sein, dass Spieler mit 28 oder 29 Jahren ihr Debüt in der Nationalmannschaft geben.

Sie predigen das seit Jahren. Glauben Sie noch daran, Gehör zu finden?

Ich werde jedenfalls nicht aufhören, an die Vereine zu appellieren, ihre Aufgabe wahrzunehmen und junge Leute auszubilden. Zwei Nachwuchsspieler im Kader zu haben wird die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigen, im Gegenteil. Vor Jahren standen wir mit den Bundesligavereinen kurz vor der Einigung auf eine Quotenregelung, diese Initiative ist leider vom früheren Kieler Manager Uwe Schwenker abgebogen worden. Ich klammere mich gar nicht daran, eine Quote ist auch mir eigentlich zu formell. Mir liegt nur daran, dass es eine entsprechende Philosophie in den Vereinen gibt.

Wenn Sie den Siegeszug von Borussia Dortmund in der Fußball-Bundesliga sehen, blutet Ihnen dann das Herz?

Diese Entwicklung im Fußball schaue ich mir schon mit Neid an. Im Fußball gibt es diese Philosophie. Dortmund ist ja nicht das einzige Beispiel. Wobei man einräumen muss, dass der HSV-Handball nur mit jungen Leuten sicher nicht diese Entwicklung genommen hätte.

Brauchen Handballer aufgrund der körperlichen Anforderungen nicht ohnehin länger, um nach oben zu kommen?

Nicht notwendigerweise. Letztlich ist das eine Frage des Einstiegsalters. Wer mit 20 seine Chance in der Bundesliga bekommt, kann mit 23 schon Weltklasse sein. Die anderen Nationen machen es ja vor. Den HSV-Kapitän Guillaume Gille habe ich 1997 bei der WM in Japan gesehen, da war er 20.

Gibt es denn entsprechende Talente?

Ja, aber sie müssen gefördert werden. Ich habe im Juniorenbereich nur ganz selten Ausnahmespieler anderer Nationen gesehen, die besser ausgebildet waren als unsere.

Was würden Sie als Verantwortlicher in Kiel oder Hamburg anders machen?

Ich würde mit meinem Trainer eine Strategie entwickeln, wie man junge Spieler fördern kann. Dass das nicht auf allen sieben Positionen geht, ist klar. Aber wenn es ein deutsches Toptalent gibt, kann ich ihn hinter einem Spitzenspieler reifen lassen. Wenn man das will, kriegt man das auch hin.

Die Gräben zwischen Vereinen und Verbänden scheinen tiefer zu werden. Es gibt Streit um den Terminplan, um Abstellungs- und Versicherungsprämien für Nationalspieler, die Bundesliga hat den Grundlagenvertrag mit dem DHB gekündigt. Droht dem Handball eine Spaltung?

Die Gefahr ist da, es gibt entsprechende Tendenzen. Die Group Club Handball zum Beispiel, der Zusammenschluss der europäischen Topklubs mit Gerd Butzeck an der Spitze, der noch nie etwas Positives für den Handball bewirkt hat, versucht bewusst, Gräben zu schaffen. Aber ich setze im deutschen Handball immer noch auf vernünftige Leute, mit denen man sich im Sinne des Handballs zu Kompromissen durchringt.

Was halten Sie von der kürzlich gegründeten Spielerorganisation?

Ich begrüße sie sehr, was die Steuerung der gesundheitlichen Belastung angeht. Wir sind da im Handball sicher an einer Grenze angelangt. Warum kann man die Saison nicht straffen, indem man zum Beispiel vier Spieltage in einer Woche ansetzt und dann eine längere Pause? Weniger Verständnis habe ich für den Widerstand der Profis gegen Bundesligaspiele am 1. oder 2. Januar. Ein Topmanager, und in diesen Gehaltssphären bewegen wir uns ja, muss auch Einschränkungen für sein Familienleben hinnehmen.

Bei der WM im Januar in Schweden wird Deutschland von ausländischen Experten nicht mehr zu den Favoriten gezählt. Damit müssten Sie gut leben können.

Ja, aber der Druck ist trotzdem da. Wir haben in der Vorrunde mit Frankreich, Spanien, Ägypten und Tunesien aus jedem Topf den schwersten Gegner bekommen. Jeden davon können wir schlagen, aber auch gegen jeden verlieren, Bahrain einmal ausgenommen. Da ist jedes Spiel ein Endspiel.

Wer führt die Mannschaft beim Turnier in Schweden?

Pascal Hens ist nicht umsonst unser neuer Kapitän. Er ist aufgrund seiner Position und seiner Persönlichkeitsentwicklung dazu geeignet. Auf den zentralen Positionen haben wir viele Typen, die diesen Machtanspruch nicht haben.

Meinen Sie HSV-Spielmacher Michael Kraus, der das Kapitänsamt nach der EM Anfang des Jahres abgegeben hat?

Er hätte diesen Anspruch vielleicht, ist aber durch viele Dinge abgelenkt. Er sollte sich auf seine Aufgabe als Spieler konzentrieren, um wieder zu jener Stärke zu finden, die er bei unserem WM-Sieg gezeigt hat.

Was ist vom WM-Boom von 2007 übrig?

Die Begeisterung ist immer noch da. Die Leute haben die Geschichte von 2007 im Kopf unabhängig von dem, was danach passiert ist. Aber von diesem Erfolg kann man nicht ewig zehren. Die Gefahr, dass eine andere Sportart uns dazwischenkommt und wir in Vergessenheit geraten, ist da. Davor warne ich immer wieder.