Ohne Teamorder fährt Sebastian Vettel zum Formel-1-Titel. Sein Ferrari-Rivale Fernando Alonso wird von der eigenen Kommandozentrale ausgebremst

Abu Dhabi. Die Tränen der Freude kullerten über den Boxenfunk in die ganze weite Welt hinaus. Nach 55 Runden rollte Sebastian Vettel als Führender beim Abschluss-Grand-Prix über den Zielstrich in Abu Dhabi. Doch sein Ingenieur ließ ihn zunächst lediglich wissen: "Es sieht ganz gut aus."

Erst als die nächsten drei Kollegen hinter ihm die Linie passiert hatten, die Briten Lewis Hamilton und Jenson Button sowie der Landsmann Nico Rosberg, meldete die Red-Bull-Box Vettel den erfolgreichen Vollzug seines Coups. Erst dann stand fest, dass Vettel Berechtigung zum hemmungslosen Schluchzen hatte: Fernando Alonso, der als Ranglistenführender in das Rennen gegangen war, hätte mindestens Vierter werden müssen, war aber nur als Siebter angekommen.

"Weltmeister", presste Vettel also ins Funkgerät: "Dank an euch, Jungs, unglaublich." Dann hopste er mit einem großen Satz aufs Podest, um sich ehren zu lassen. Und die Nationalhymne für den Sieger folgte, deren Zeile halbwegs die Art und Weise des Triumphs beschreibt, weil Red Bull seinen Piloten keine Teamorder befahl, um verdient mit den schnellsten Autos Weltmeister in Konstrukteurs- wie Fahrerwertung zu werden: "Einigkeit und Recht und Freiheit."

Tatsächlich freut sich das ganze Land über seinen neuen Formel-1-Helden. Ausgerechnet in der Saison, in der Michael Schumacher mit seiner Rückkehr als Rekordweltmeister für ruhmreiche Momente sorgen wollte, brilliert der erste Erbe: In seinem erst dritten Jahr in der Formel 1 gelang Vettel das Kunststück, im letzten Rennen erstmals die Führung in der WM-Wertung zu übernehmen und jüngster Weltmeister der WM-Geschichte zu werden. "Der Start war natürlich entscheidend: Lewis kam etwas näher heran. Und dann war es nur noch ein Traum", schwärmte Vettel: "Ich wusste überhaupt nicht genau, wie es steht - bis zur letzten Runde."

Vettel profitierte aber vor allem von einem peinlichen Patzer der Ferrari-Kommandozentrale: Weil die Italiener offensichtlich ausschließlich Alonsos Punktevorsprung auf den vor dem Rennen WM-Zweitplatzierten Australier Mark Webber im zweiten Red Bull im Auge hatten, lotsten sie Alonso, der nach dem Start zwar einen Platz auf Rang vier zurückgefallen war, aber auf WM-Kurs war, bereits frühzeitig in der 16. Runde an die Box.

Alle anderen Spitzenteams mühten sich dagegen, erst einen Vorsprung herauszufahren, um nach dem obligatorischen Boxenstopp nicht in den dichten Verkehr zu geraten. Als Alonso dann wieder auf die Strecke zurückkehrte, fiel er noch hinter Nico Rosberg im Mercedes und den Russen Witali Petrow im Renault zurück. Die beiden hatten gleich in der Safety-Car-Phase nach einem Unfall von Michael Schumacher mit Vitantonio Liuzzi im Force India in der ersten Runde die Reifen gewechselt und waren offensichtlich von den Ferrari-Strategen übersehen worden.

Vergeblich mühte sich der zweimalige Weltmeister Alonso anschließend 39 Runden lang, den Patzer der Teamführung zu korrigieren. Womöglich sahen sich die wacker kämpfenden Renault zur Dienstleistung an Vettel verpflichtet: Dessen Red Bull wird mit einem Aggregat des französischen Herstellers angetrieben.

Und als nach 47 Runden der zweite Renault mit dem Polen Robert Kubica nach dem ersten Stopp auch noch vor Alonso landete, war die Katastrophe für Alonso und sein Team perfekt: "Ferrari hat sich verzockt, sonst wäre das Resultat nicht zustande gekommen", sagte der dreimalige Weltmeister Niki Lauda, der nicht nur sprichwörtlich aus Ehrfurcht vor dem Deutschen Sebastian Vettel den Hut zog und ohne Mütze, aber mit blanker Kopfhaut das Rennen analysierte: "Gegen alle Widrigkeiten haben Sebastian und Red Bull mit dem olympischen Gedanken gewonnen: keine Teamorder."

Die Ferrari-Crew darf nun eine tüchtige Tracht verbale Prügel erwarten, weil sie den fast sicheren WM-Titel leichtfertig aus der Hand gegeben hat. Mit acht Punkten hatte Alonso schließlich vor dem Rennen vor dem gestern enttäuschenden Australier Webber ("Ich werde mir nicht den Hals durchschneiden") geführt, mit 15 gar vor Vettel - allerdings auch aufgrund der umstrittenen Teamorder von Hockenheim, als Ferrari seinen zweiten Fahrer Felipe Massa angewiesen hatte, Alonso passieren zu lassen.

"Renault war auf dieser Strecke sehr schnell - das war ein schweres Rennen, das leider nicht gut für uns gelaufen ist", klagte Alonso, ohne seine Bosse direkt zu attackieren. "Wir sind auch ein bisschen stolz auf uns, der zweite Teil der Saison war gut", mühte sich Teamchef Stefano Domenicali gestern um Contenance, "nach der Bitterkeit des Augenblicks werden wir uns reinhängen für die nächste Saison."

In der Heimat fielen die Reaktionen weniger versöhnlich aus. Roberto Calderoli, Italiens Minister für Bürokratieabbau, warf der Scuderia eine "schwachsinnige Strategie" vor und forderte sogar den Rücktritt von Ferrari-Chef Luca di Montezemolo: "Er ist schuld daran, dass wir uns als Ferrari-Fans schämen müssen."