An die Beleidigungen im Training hat er sich längst gewöhnt. Mehr noch, sie gefallen ihm sogar. "Es gibt nichts Schöneres, als wenn einen die Stürmer beschimpfen", sagt Tim Jessulat, und wenn man den Grund für die wilden Flüche, die derzeit während der Übungseinheiten der Hockeyherren des Clubs an der Alster an seine Adresse geschickt werden, nicht wüsste, müsste man den 30-Jährigen für masochistisch erklären. Aber Jessulat ist Torhüter, und in dieser Funktion bringt er seine stürmenden Klubkollegen mit seinen Paraden zur Weißglut. "Tim treibt unsere Stürmer regelmäßig in die Verzweiflung", sagt Trainer Jo Mahn, "er ist seit Wochen in bestechender Form."

Den Grund für sein Leistungshoch hat Jessulat in der WM gefunden, die Deutschland am 13. März in Indien als Silbermedaillengewinner abschloss. Mit der klaren Maßgabe, der Ersatz für Stammkeeper Max Weinhold zu sein, war er nach Neu Delhi gereist, doch nachdem sich der Kölner Konkurrent, mit dem ihn eine Freundschaft verbindet, bereits im Auftaktspiel am Knie verletzte, musste der "Hexer", wie Alsters Fans ihren Torwart nennen, ran. "Ich hatte einen Wellness-Aktiv-Urlaub erwartet und bekam einen Action-Urlaub", beschreibt Jessulat sein persönliches Indien-Abenteuer. Er spielte bis zum Abpfiff des Endspiels - und das so gut, dass Bundestrainer Markus Weise ihm bescheinigte, dass das Turnier auch mit Weinhold nicht besser gelaufen wäre. "Die WM war mein erstes großes Turnier. Ich konnte beweisen, dass man sich auf mich verlassen kann. Das hat mir unglaublich viel Selbstvertrauen gegeben", sagt Jessulat, "und das zeige ich derzeit auf dem Platz."

Das ist auch gut so, denn ein Hexer in Hochform dürfte nötig sein, wenn Alster an diesem Sonnabend (14.30 Uhr) in Rotterdam zum Achtelfinale der Euro Hockey League (EHL) antritt. Gegner ist Titelverteidiger HC Bloemendaal mit den Weltstars Teun de Nooijer und Jamie Dwyer. Zwar ging das Gruppenspiel gegen die Niederländer im Oktober in Paris nur mit 1:2 verloren, dennoch weiß Jessulat, "dass wir alle unsere Topleistung abrufen müssen, um weiterzukommen." Im Viertelfinale am Ostermontag (14.30 Uhr) würde dann Lokalrivale Uhlenhorster HC warten; dessen Sieg gegen die Waterloo Ducks aus Belgien (Sa., 17 Uhr) vorausgesetzt. "Das Spiel wäre ein Traum", sagt Jessulat.

Träumereien gibt sich der gebürtige Münchner selten hin. Vielmehr gilt der freiberufliche System- und Netzwerkadministrator als grundsolider Organisator. Sein Beruf verpflichtet ihn, im Verein und Nationalteam alle technischen Probleme der Mitspieler zu lösen. Für Alster-Trainer Mahn ersetzt er die Sekretärin, er verschickt Wochenpläne ans Team und ordnet den E-Mail-Verkehr. "Ich übernehme gern Verantwortung", sagt Jessulat.

Mit seinen 30 Jahren ist der in Eppendorf lebende Single ein "Oldie" der immer jünger werdenden Hockeyszene. Stören tut ihn das nicht, im Gegenteil: "Ich habe noch so viel Spaß am Hockey und möchte mindestens bis Olympia 2012 in London weiterspielen!" Ein wichtiger Teil von Jessulats Erfolgsrezept ist, dass er noch relativ unverbraucht ist. Anders als viele Teamkameraden, die als Teenager in die Bundesliga kommen, spielt der Hobbygolfer erst seit sechs Jahren in der höchsten Klasse. Als Student in Ulm ging er 2005 zu den Stuttgarter Kickers, mit denen er prompt im ersten Jahr Meister wurde - durch einen Finalsieg gegen seinen heutigen Verein. Auch damals brachte er die Stürmer der Hamburger, die ihn im Sommer 2007 mit einem Jobangebot an die Alster lockten, zur Verzweiflung. Beschimpft haben sie ihn damals nicht, verflucht und gefürchtet aber schon. Und das gefällt dem Keeper mindestens genauso gut.