Der 33-Jährige über das historische Tri pel mit Frankreich, unstillbaren Er folgshunger und die Rückwirkungen der Europameisterschaft auf den Verein.

Hamburg. Gut, dass Guillaume Gille an die Goldmedaille gedacht hat. Es ist eben nicht der erste Pressetermin der HSV-Handballer, bei dem der 33 Jahre alte Kapitän nach einem erfolgreichen Turnier im Mittelpunkt des Interesses steht. Am vergangenen Sonntag war Gille bei der Europameisterschaft in Österreich mit Frankreich Historisches gelungen: Er hat nach dem Olympiasieg in Peking 2008 und dem WM-Triumph in Kroatien 2009 nun alle drei großen Titel inne. Nachdem er für die Fotografen gelächelt hat, reicht er die Medaille an seinen Bruder Bertrand (31) weiter. Der hat seine nämlich vergessen.

Abendblatt: Herr Gille, wie groß ist die Vorfreude, am Sonnabend, nur sechs Tage nach dem gewonnenen EM-Finale gegen Kroatien, mit dem HSV im DHB-Pokal beim VfL Bad Schwartau anzutreten?

Guillaume Gille: Glauben Sie mir: Die Vorfreude, die alten Bekannten wiederzusehen, ist wirklich groß. Ich bin hungrig auf die Stimmung, ich liebe diese Mannschaft. Und es geht um den Einzug ins Final Four, eine ganz wichtige Partie. Die Europameisterschaft ist schon abgehakt.

Abendblatt: Hatten Sie überhaupt Zeit, Ihren Triumph zu genießen?

Gille: Bis wir es wirklich begreifen, wird es dauern. Wir waren ja auch gar nicht auf das Tripel fokussiert. Wir wollten nicht mehr, als gut Handball zu spielen, erst recht nachdem wir ganz schlecht in das Turnier gestartet sind. Manchmal waren wir der Verzweiflung nahe, unser Selbstvertrauen war weg. Wir hatten ganz andere Sorgen als das Tripel.

Abendblatt: Wie fiel die Reaktion in Frankreich aus?

Gille: Wir sind von vielen Menschen begeistert empfangen worden. Präsident Nicolas Sarkozy hat uns für Montag zum Essen in den Élysée-Palast eingeladen, so eine Gelegenheit bekommt man nicht oft. Für unsere Sportart ist der Erfolg natürlich eine Superwerbung. Das sollten wir nutzen.

Abendblatt: Was kann der HSV vom Erfolg der Franzosen lernen?

Gille: Diese beiden Ebenen lassen sich nur ganz schwer vergleichen. Wir haben es mit der Nationalmannschaft einfach geschafft, viele starke Spieler auf ein Ziel zu fokussieren, trotz der starken Egos, die wir haben.

Abendblatt: Woher kommt der Erfolgshunger dieser Mannschaft, die doch vorher schon alles gewonnen hatte?

Gille: Jeder Zweikampf ist das Benzin deiner Sportlerkarriere. In diesen Situationen kriegst du, was du brauchst: die Unsicherheit, ja sogar die Verzweiflung, die du auch haben kannst. Das Selbstvertrauen, die Freude am Spiel kann man aus der Vergangenheit mitnehmen. Aber man steht bei jedem Turnier aufs Neue wieder vor einem weißen Blatt Papier. Jedes Kapitel ist neu zu schreiben.

Abendblatt: Ist das Buch bei Ihnen nach je zwei WM- und EM-Titeln und dem Olympiasieg nun zu?

Gille: Irgendwann muss ich einmal in Ruhe nachdenken und abwägen, was es bringt und was es kostet. In den letzten Wettbewerben habe ich erst spät und spontan zugesagt, oft erst kurz vor Beginn der Vorbereitung. Grundsätzlich handhabe ich es so: Solange ich fit bleibe, stehe ich an der Startlinie. Sobald ich mich überfordert fühle, sage ich ab. Ich weiß, dass ich auf mich aufpassen muss. Für einen Sportler über 30 ist der Körper sein größtes Kapital.

Abendblatt: Wie fühlen Sie sich denn körperlich?

Gille: Gut. Ich habe ja gar nicht so viel gespielt, nachdem ich mir in der EM-Vorbereitung eine Bauchmuskelzerrung zugezogen hatte. So gesehen lief das Turnier für mich persönlich nicht nach Wunsch. Aber am Ende spielt das keine Rolle. Jeder hat seinen Teil zum Titel beigetragen.

Abendblatt: Elf Hamburger Profis waren bei der EM im Einsatz, sieben sogar bis zum Finalwochenende. Gefährdet das den Erfolg des HSV?

Gille: Die Belastung war sicherlich außergewöhnlich. Auch wenn wir diesmal den Luxus zweier zusätzlicher Ruhetage hatten: Acht Spiele in 13 Tagen bedeuten enormen Stress. Die größte Herausforderung für uns besteht darin, dass wir uns als Mannschaft wieder finden und diesen Prozess so kurz wie möglich halten. Im Januar waren aus der ersten Mannschaft nur drei Leute in Hamburg, da kann man kaum richtig trainieren. Jetzt müssen wir alle wieder die HSV-Festplatte einschalten.

Abendblatt: Der HSV ist seit Weihnachten Tabellenführer der Bundesliga. Erhöht es den Druck, die Gejagten zu sein?

Gille: Das werden wir sehen. Grundsätzlich ist es schön, die erste Saisonhälfte als Tabellenführer zu beenden. Wir wollen einfach da anfangen, wo wir aufgehört haben. Wenn wir uns treu bleiben, wird der Erfolg die logische Konsequenz sein.

Abendblatt: Ist es von Vorteil, zunächst gegen einen Zweitligisten zu spielen?

Gille: So zu denken wäre fahrlässig. In dieser Mannschaft gibt es viele, die uns sehr gut kennen. Thomas Knorr hat als Trainer einiges von unserer Spielphilosophie aufgegriffen. Das wird ein Kracher von Anfang an.

Abendblatt: Sie spielen nach Meinung vieler Experten die beste Saison seit Langem. Haben Sie eine Erklärung?

Gille: Ich fühle mich einfach gut. Es gibt immer mal kleine körperliche Beschwerden, aber das konnte ich gut kompensieren. Abgesehen davon lässt eine erfolgreiche Mannschaft einen selbst auch gut aussehen.

Abendblatt: Würde Ihnen eine Meisterschaft oder ein Champions-League-Sieg mit dem HSV mehr bedeuten als der EM-Sieg?

Gille: Solche Vergleiche würde ich nie anstellen. Der HSV ist eine andere Welt. Für den Verein schwitzen wir rund um die Uhr, sind wir viele Wochen im Jahr unterwegs. Die Vorstellung, dass wir mit dem HSV Titel gewinnen, lasse ich mir natürlich gern gefallen. Es wäre für uns alle eine Riesenbelohnung für das, was wir leisten.

Abendblatt: Haben Sie Ihrer Familie aus Österreich etwas mitgebracht außer der Goldmedaille?

Gille: Die Medaille ist nicht, was meine Familie von mir braucht. Es ist für meine Frau nur gut zu wissen, dass es sich gelohnt hat, einen Monat weg zu sein.

Abendblatt: Schaut sie sich denn Ihre Spiele an?

Gille: Sie schon. Meine Kinder sehen lieber Kindersendungen. Das ist auch viel besser so. Wenn ich zu Hause bin, will ich nicht durch meine Arbeit, die sicher außergewöhnlich ist, im Mittelpunkt stehen. Da gibt es genug anderes, was man ihnen zeigen kann.

Abendblatt: Vor dem Spiel am Sonnabend wird eine Schweigeminute für Ihren im Januar verstorbenen Teamkollegen Oleg Velyky eingelegt. Hatten Sie schon Zeit, Trauerarbeit zu leisten?

Gille: Nein. Als wir bei der Europameisterschaft davon erfuhren, waren wir so tief gerührt, dass es schwer war, sich wieder auf den Sport zu konzentrieren. Aber anders wäre es gar nicht möglich gewesen, Leistung zu bringen. Zurück beim HSV wird man natürlich auf Schritt und Tritt an ihn erinnert. Die Gedanken kommen mit Macht zurück, das ist verdammt schwer. Oleg hat den Kampf gegen seine Krankheit verloren, aber er hat sich wie ein Löwe verteidigt.