Das Zuhause in Kanada, die Heimat in Hamburg: Pfarrer Dünzkofer über den Charme und die Sorgen der Olympia-Gastgeberstadt Vancouver.

Vancouver. Was ein richtiger Winter ist, hat Markus Dünzkofer erst vor vier Wochen erfahren dürfen. Da weilte er für ein paar Tage in Hamburg, der Geburtsstadt seiner Mutter, im Alten Land und in Stade, um Freunde und Verwandte zu besuchen. Die passende Kleidung fehlte in seinen Koffern. Eis, Schnee und Minustemperaturen sind schließlich seit fünfeinhalb Jahren nicht mehr Teil seiner neuen Welt. Damals, im Juni 2004, zog es den heute 40-Jährigen nach Vancouver. Hier beginnen am Freitag um 20 Uhr Ortszeit (Sonnabend, 5 Uhr MEZ) die Olympischen Winterspiele, die ersten grünen der Geschichte. Das Thermometer, kündigen die Meteorologen an, wird in den Abendstunden wieder sechs oder sieben Grad Celsius zeigen, plus natürlich, wie immer zu dieser Jahreszeit. Vom Pazifik wird eine sanfte Brise wehen. "Als vor anderthalb Jahren in Vancouver ein bisschen Schnee fiel, brach in der Stadt fast die Panik aus", erinnert sich Dünzkofer, "niemand war darauf eingestellt. Zum Glück dauerte der Schrecken gerade mal zwei Tage."

Markus Dünzkofer ist Pfarrer der Anglikanischen Kirche. Sein Händedruck ist kräftig, seine Augen blicken freundlich. Seine Brille setzt er im Gespräch zuweilen ab. Er wirkt auf den ersten Blick wie einer, dem man sich anvertrauen mag. Dünzkofer lacht gern. Seine Herzlichkeit schafft eine angenehme Atmosphäre. Seit 1996 arbeitet der Theologe im Ausland, vor Vancouver acht Jahre lang in Hamburgs Partnerstadt Chicago. Er will sich nicht als Auswanderer bezeichnen. "Ich habe Deutschland nicht verlassen, um woanders mein Glück zu suchen, ich habe es jedoch gefunden. Zufällig. Die Faszination Vancouvers lässt keinen los. Die, die einmal hergekommen sind, wollen hier nie wieder weg." Endstation Vancouver - in einer der schönsten Städte der Welt.

48 Prozent der Einwohner, und das sind in der weitläufigen Metropolregion zwischen Bergen und Buchten inzwischen rund 2,3 Millionen, haben einen Migrationshintergrund, nach den Briten sind es die Chinesen. Bei acht Prozent der Ehen kommen die Partner aus verschiedenen Kulturen. Beides sind Höchstwerte im Einwandererland Kanada. "Olympia ist für uns eigentlich überflüssig", sagt Reverend Dünzkofer, "bei uns ist die Welt nicht nur zwei Wochen lang zu Gast, wir treffen sie in Vancouver täglich." Als Kritik an der Olympiabewerbung will er diesen Satz nicht missverstanden wissen, "um Gottes willen", er dient ihm lediglich als Beschreibung. Dünzkofer ist kein Olympiagegner, er engagiert sich als einer von 4000 Freiwilligen für das Gelingen der Spiele. Seit drei Wochen ist er im Einsatz im Akkreditierungszelt unten am Hafen, wenn die Gemeindearbeit ihm in den Vormittagsstunden Zeit lässt. Die blaue Uniform weist ihn als Volunteer aus. Er trägt sie mit Stolz.

Wohl keine Stadt scheint vordergründig geeigneter, Olympische Spiele auszurichten, als dieses junge, multikulturelle Vancouver - wenn Olympia denn wirklich diese Völker verbindenden Werte hat, die es zu haben vorgibt. Fremde werden in Vancouver nicht als Belastung empfunden, sondern als Bereicherung. Toleranz muss niemand fordern, sie wird gelebt. Kriegsdienstverweigerer und Hippies aus den USA haben sich in den vergangenen Jahrzehnten hier niedergelassen, Lesben und Schwule sind willkommen. Im Café Amsterdam darf gekifft werden, im Insite erhalten Drogensüchtige von der Stadt kostenlos Heroin. Das hat die Beschaffungskriminalität dramatisch gesenkt. Die Stadtverwaltung gibt ihre Erlasse nicht nur in den Amtssprachen Englisch und Französisch heraus, immer öfter auch in Kantonesisch, Russisch, Panjabi, Tagalog oder anderen Muttersprachen ihrer Bewohner und indianischen Ureinwohner, den First Nationals. Deutsch fehlt, "weil die Deutschen sich schnell ans Englische gewöhnen und als Deutsche lieber im Hintergrund bleiben wollen. Da ist oft eine gewisse Scham zu spüren. Vermutlich ist sie historisch begründet", sagt Dünzkofer.

In diesen letzten Tagen vor der Eröffnungsfeier hat der Kirchenmann in vielen Gesprächen festgestellt, haben generelle Sinnfragen zu Olympia wieder Konjunktur. Das war in keiner Olympiastadt vor Entzünden der Flamme anders. Meinungsumfragen haben ihn in seiner Wahrnehmung bestätigt. Die vorbehaltlose Zustimmung der Bevölkerung zu den Winterspielen sinkt. Im Landesdurchschnitt beträgt sie noch 70 Prozent, in Vancouver fiel sie auf 50 Prozent. Da sind zudem die öffentlichen Proteste in der Olympiastadt, die ein "National Housing Program" für Obdachlose anmahnen und die Stadt an ihr Versprechen erinnern, nach den Spielen einen Teil der Wohnungen im olympischen Dorf an Bedürftige vergeben zu wollen. Die Stadträtin Ellen Woodsworth von der linken Fortschrittspartei Cope verleiht mit einem Hungerstreik dem Anliegen Nachdruck. 15 weitere Intellektuelle wollen ihr folgen.

"Der Umgang mit den rund 2600 Obdachlosen in Eastside Downtown, die mitten in der Stadt auf der Straße leben, stößt bei den Menschen in Vancouver auf immer größeres Unverständnis. Sie fragen sich immer öfter, war es richtig, sieben Milliarden kanadische Dollar, rund fünf Milliarden Euro, für die Ausrichtung der Olympischen Spiele auszugeben?", weiß Pfarrer Dünzkofer. Bürgermeister Gregor Robertson verdankt den Obdachlosen sein Amt. Die rechtsliberale Vorgängerregierung hatte ihren Verheißungen keine Taten folgen lassen. Neun von zehn Stadträten wurden vor zwei Jahren abgewählt. Robertson aber droht ebenfalls an der Aufgabe zu scheitern. Als im November 2008 der US-Investor, der das olympische Dorf bauen sollte, Insolvenz anmeldete, sprang die Stadt mit 900 Millionen kanadischen Dollar (640 Millionen Euro) in die Bresche. Das Geld fehlt nun im Haushalt, und deshalb ist die Befürchtung begründet, Vancouver werde nach Olympia gezwungen sein, die Wohnungen zu Höchstpreisen zu verkaufen. "Dieser Vermutung hat Robertson bislang nicht eindeutig widersprochen. Das macht die Leute misstrauisch", sagt Dünzkofer, "zumal die kanadische Regierung derartige Wohnprojekte bereits gestrichen hat."

Der Wohnraum in Vancouver ist schon heute der teuerste in Kanada. Nach den Spielen drohen die Preise noch einmal kräftig anzuziehen. Die Attraktivität der Stadt, die Olympia vermutlich weiter steigern wird, könnte sich zum Fluch entwickeln. Es seien auch diese Gedanken, die den Menschen vor Beginn der Spiele plötzlich Angst machten, glaubt der Seelsorger: "Ich höre immer wieder: Wir haben Olympia gewollt, nicht gewollt haben wir diese gnadenlose Kommerzialisierung, die die Spiele auslösen. Wir wollen nicht aus unserer wunderschönen Stadt vertrieben werden, weil wir sie uns am Ende nicht mehr leisten können." Dünzkofer teilt diesen Kulturpessimismus nicht. "Es wird Antworten auf diese Fragen geben", sagt er, "wir müssen nur aufpassen, dass wir die Antworten nicht anderen überlassen."

Viele der aufgeregten Diskussionen werden in den nächsten zwei Wochen allerdings hinfällig, glaubt Dünzkofer, wenn eines gelingt: Gold für Kanada im Eishockey. Nach dieser Medaille lechzt die Nation. Für diesen Triumph sind die Kanadier bereit, fast jeden Preis zu zahlen und alles andere zu vergessen. "Das schafft nur der Sport", sagt der Pfarrer.