Der Punkt, über den in Helsinki alle rätselten: Warum hatte man bis zum letzten Tag warten müssen, um ein Problem eskalieren zu lassen, das schon seit Jahren bekannt ist?

Helsinki. Die Sonne, die Finnlands Hauptstadt Helsinki am Pfingstsonnabend Temperaturen bis zu 30 Grad bescheren sollte, lockte Einheimische und Touristen zu Tausenden auf die Straßen und Plätze rund um den Hafen. Doch nicht alle hatten die Möglich-keit, das sommerliche Wetter zu genießen. Im SAS-Radisson-Hotel hinter dem Hauptbahnhof trafen sich um 12 Uhr Vertreter der deutschen Profiboxställe Universum (Hamburg) und Sauerland (Berlin) mit Gilberto Mendoza Jr., dem Präsidenten des Welt-verbandes WBA, und dem finnischen Verbandsboss Pertti Augustin, um erste Versuche zu unternehmen, einen der größten Skandale der jüngeren Boxgeschichte aufzuklären.

Am Freitagabend um 22.19 Uhr Ortszeit hatte der finnische Verband auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben, dass die für den Pfingstsonnabend geplante Schwergewichts-WM zwischen dem Russen Nikolai Valuev (35, Sauerland) und dem Usbeken Ruslan Chagaev (30, Usbekistan) ab-gesagt werden muss. Offizielle Begründung: Chagaev habe die obligatorischen medizinischen Tests nicht bestanden, da er eine schwach ansteckende Hepatitis-B-Infektion in sich trage. Das gesundheitliche Risiko für Valuev sei zu hoch, um den Kampf sanktionieren zu können.

Nach der rund dreieinhalb Stunden dauernden Sitzung traten die Teilnehmer vor die drei Dutzend wartenden Journalisten, um ihre Sicht der Dinge zu schildern. Mendoza stellte klar, dass der Weltverband sich eine Bedenkzeit von sieben Tagen nehmen werde, um alle Argumente abzuwägen und dann eine Entscheidung zu fällen. Von einer Neuansetzung des Kampfes über Vertragsstrafen bis hin zum Titelverlust für einen oder auch beide Kämpfer reicht die Palette der möglichen Sanktionen. Universum beharrte dar-auf, dass der finnische Verband mit seiner Entscheidung einen groben Fehler begangen habe. Sauerland betonte, dass die Absage nur den Regeln des für die Durchführung zuständigen Ve-bands entsprochen habe und deshalb richtig gewesen sei. Lesen Sie dazu auch die ausführlichen Interviews mit Dietmar Poszwa, Mitglied der Universum-Geschäftsleitung, und Sauerland-Chef Wilfried Sauerland.

Zu den Fakten: Tatsächlich leidet Chagaev seit fünf Jahren an Hepatitis B. Die potentielle Ansteckungsgefahr wird in der so-genannten HBV-DNA-Analyse in fünf Abstufungen unterteilt. In Tests in Deutschland, die vor jedem seiner Kämpfe und zusätzlich zuletzt am 8. Mai im Hamburger Klinikum St. Georg durchgeführt worden waren, war er laut Universum-Arzt Michael Ehnert (Hamburg) und dem renommierten Ringarzt Professor Walter Wagner (Bayreuth) stets in der Kategorie null - „nicht in-fektiös“ - eingeordnet worden. Ein vom finnischen Verband erwünschter und am Donnerstag er-folgter Nachtest der Uniklinik Helsinki ergab dann jedoch am Freitagmittag, dass Chagaev in die Klasse 1 – gering infektiös, Konzentration der Viren im Blut bei unter 12 Internationalen Einheiten pro Milliliter – einzuordnen sei. Daraufhin entschied der finnische Verband laut Augustin, „dass wegen des geringen, aber vorhandenen Risikos einer Ansteckung der Kampf nicht gestattet werden kann“.

Wagner konnte zwar die Argumentation des finnischen Verbandes nachvollziehen, gab jedoch im Gespräch mit dem Abendblatt zu: „In Deutschland oder auch in Österreich, unter dessen Lizenz Sauerland veranstaltet, hätte der Kampf stattgefunden.“ Das Problem sei, dass die Weltverbände keine einheitliche Regelung festgelegt hätten, sondern die Entscheidung in die Hände der nationalen Verbände legten (lesen Sie dazu auch das Interview mit Wagner). Fakt ist, dass die WBA und der Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) Chagaevs bisherige Kämpfe allesamt sanktioniert hatten.

Interessant war, dass Wagner darauf hinwies, dass er selbst schon vor Wochen auf das mögliche Problem der unterschiedli-chen Regelauslegung hingewiesen habe. „Ich habe dem finnischen Verband angeboten, dass ich als Ringarzt die Austragung des Kampfes sichern würde. Aber das wurde von Pertti Augustin abgelehnt, nachdem die Tests in Deutschland keine Ansteckungsgefahr ausgewiesen hatten“, sagte er.

Genau dies war auch der Punkt, über den in Helsinki alle rätselten: Warum hatte man bis zum letzten Tag warten müssen, um ein Problem eskalieren zu lassen, das schon seit Jahren bekannt ist? Schon während der ge-samten Kampfwoche hatte der Sau-erland-Stall den Eindruck erweckt, das Duell stehe auf der Kippe. Am Dienstag hatte Wilfried Sauerland im Abendblatt-Gespräch angemerkt: „Mal sehen, ob das Duell überhaupt stattfindet.“ Was wie eine Anspielung auf Chagaevs Krankenakte wirkte – der Usbeke hatte das geplante Rematch mit Valuev im April 2008 wegen einer Grippe und im Juli 2008 wegen eines Achillessehnenrisses absagen müssen -, bekam damit im Nachhinein einen faden Beigeschmack.

Neutrale Beobachter konnten jedenfalls feststellen, dass während des Freitagabends die Mitarbeiter des Sauerland-Stalls keine großen Anstrengungen unternahmen, den Kampf mit allen Mitteln zu retten. Das verwunderte. Immerhin wollte Valuev im „wichtigsten Kampf meiner Karriere“ die Punktniederlage vom April 2007 ausmerzen, durch die er seinen Titel gegen Chagaev verloren hatte. Durch die doppelte Absage des Rematches war Chagaev zum „Weltmeister im Wartestand“ erklärt worden. Valuev hatte sich durch einen Sieg über John Ruiz im August 2008 den Interims-Titel wiedergeholt und war dann von der WBA wieder als Weltmeister akzeptiert worden. Durch seinen Sieg über Carl Davis Drummond im Februar in Rostock wurde Chagaev nach seinem Comeback auch als Weltmeister geführt.

Welche Konsequenzen die Kampfabsage auch immer haben wird: Der Imageschaden für das Boxen ist immens. Dem durchschnittlichen Boxfan ist eine solch kuriose Kampfabsage nicht zu vermitteln. Im Werben um neue Fernsehverträge und lukrative Kampfabende ist ein solcher Vorgang Wasser auf die Mühlen derer, die das Boxen schon immer als Ansammlung kor-rupter Funktionäre sahen. Sauerland musste seinem TV-Partner ARD einen fest eingeplanten Quotenbringer streichen und zudem auch das für die Organisation und Promotion des Duells aufgewendete Geld, rund eine halbe Million Euro, abschreiben. Uni-versum muss zum dritten Mal eine Absage Chagaevs erklären und sieht sich Vorwürfen ausgesetzt, Gegner Chagaevs nicht ausreichend geschützt zu haben.

Noch härter traf es natürlich beide Sportler, die sich monatelang auf das Duell vorbereitet hatten und sich beide noch beim offiziellen Wiegen am Freitagmittag kampffähig und topfit präsentiert hatten. Valuev hatte von der Absage gegen 18 Uhr er-fahren, nachdem man ihm eröffnet hatte, dass er selbst die Entscheidung treffen müsse, ob er die Gefahr einer Ansteckung in Kauf nehmen wolle oder nicht. Zwischenzeitlich war sogar von Sauerland-Leuten verbreitet worden, der finnische Verband habe Valuev die Entscheidung über die Absage überlassen wollen. Dies dementierte Sauerland am Sonnabend: „Die Entscheidung lag immer beim finnischen Verband!“ Valuev sagte: „Ich bin sehr enttäuscht, weil ich zwei Jahre auf den Kampf gewartet und mich nun schon dreimal umsonst darauf vorbereitet habe. Aber es gab eine verstecke Ansteckungsgefahr, deshalb verstehe ich die Absage.“ Chagaev bekam die Hi-obsbotschaft erst um 22.30 Uhr von Dietmar Poszwa, Mitglied der Universum-Geschäftsleitung, übermittelt. Er war am Boden zerstört und zeigte kein Verständnis. „Ich bin gesund und fit und verstehe nicht, warum ich nicht boxen darf. Ich könnte heute, morgen, jeden Tag boxen. Deshalb hoffe ich, dass der Verband so schnell wie möglich einen neuen Termin für den Kampf findet.“ Trainer Michael Timm sagte: „Ich kann noch immer nicht glauben, dass man unserem Sport so etwas antut. Das ist ganz schlimm für das Boxen.“

Beim Weltverband WBA zeigte man sich von der plötzlichen Absage mehr als verwundert. Präsident Mendoza erklärte, man sei im Vorfeld nicht ausreichend informiert worden. „Wir sind sehr unglücklich darüber, wie das Ganze gelaufen ist. Das ist ein großer Schaden für den Boxsport in Europa“, sagte Mendoza, der über die weiteren Schritte in den kommenden sieben Tagen mit den Mitgliedern der Verbandsspitze diskutieren wird. Verwundert zeigte er sich darüber, dass Sauerland Chagaev beharrlich als „Weltmeister im Wartestand“ bezeichne. „Chagaev ist Weltmeister, und Valuev der Interims-Weltmeister. Wir haben Sauerland lediglich erlaubt, den Zusatz Interim zu streichen, um die Kämpfe als WM-Kämpfe besser vermarkten zu können.“ Diesen Fakt untermauert auch der Börsensplit, der 55:45 zugunsten Chagaevs ausgefallen wäre.

Dass sich am Sonnabend auch der exzentrische US-Promoter Don King vor Ort in Helsinki in die Verhandlungen einschaltete, machte die Lage noch unübersichtlicher. King ist mit 50 Prozent an Valuev beteiligt und forderte die WBA auf, Chagaev sofort den Titel zu entziehen. Was King damit bezwecken will, ist klar. Valuev soll als wahrer WBA-Weltmeister die Chance bekommen, gegen einen der Klitschko-Brüder zu kämpfen, die die Titel der anderen drei Weltverbände unter sich aufteilen. Dieser große Zahltag würde über alle finanziellen und Imageverluste hinübertrösten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt?