Der Defensivspezialist über Verletzungen, echte Gefühle, seltene Treffer - und die Lust am Schmerz.

Abendblatt:

Herr Roggisch, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Tor gegen Algerien!

Oliver Roggisch:

Ab und zu werfe ich eben auch mal eins. Aber das ist komplett unwichtig. Mein Job ist es, die Abwehr zu organisieren. Wenn das funktioniert, ist es mir viel lieber.



Abendblatt:

Es war erst Ihr 26. Tor für die Nationalmannschaft. Zählen Sie mit?

Roggisch:

Die Zahl habe ich nicht im Kopf. Ich weiß nur, dass meine Quote in den letzten drei, vier Turnieren bei annähernd hundert Prozent liegt: Meistens habe ich einmal aufs Tor geworfen und getroffen. Die Quote muss natürlich stehen.



Abendblatt:

Fehlt das Erfolgserlebnis nicht? Kinder träumen doch davon, Tore zu werfen, nicht Tore zu verhindern.

Roggisch:

Man darf nicht vergessen, dass ich nicht mein Leben lang Abwehrspezialist war. Bis ich 23 Jahre alt war, habe ich auch im Angriff gespielt. 2002 kam ich zu TuSEM Essen, dort spielte mein großes Vorbild Dimitri Torgowanow, einer der besten Kreisläufer der Welt. So hat es sich entwickelt, dass ich immer weniger im Angriff zum Einsatz kam. Irgendwann war ich der Abwehrspezialist. Aber ich bin damit Weltmeister geworden und durfte bei Olympia dabei sein. Mein Traum ist in Erfüllung gegangen - auch ohne Tore.



Abendblatt:

Macht es Spaß, das Spiel zu zerstören?

Roggisch:

Es kann genauso reizvoll sein, wie Tore zu werfen. Ein guter Block zählt für mich wie ein Tor. Das Spiel ist genauso taktisch, ich muss den Angriff des Gegners lesen, das macht Riesenspaß. Und mir liegt es, diese gewisse Härte ins Spiel zu bringen. Manche denken sicher, ich bin bekloppt - gerade meine Gegner.



Abendblatt:

Wie sind Sie denn wirklich? Steckt unter der harten Schale ein weicher Kern?

Roggisch:

Ja. Der Handballer Roggisch will die Härte ausstrahlen. Dass der Gegner weiß: Wenn er in meinen Bereich kommt, tut's weh. Aber ich bin privat ein ganz anderer Mensch, der die Ruhe genießt. Das merkt jeder, der sich mit mir einmal unterhält. Den Handballer Oliver Roggisch hat meine Frau im Privatleben sicher noch nie erlebt. Was die beiden Menschen verbindet, ist allein der Ehrgeiz.



Abendblatt:

Wann hatten Sie zum letzten Mal Schmerzen?

Roggisch:

Gestern nach dem Spiel und heute Morgen nach dem Aufwachen. Nach drei Turniertagen tut schon einiges weh. So ein Pferdekuss ist schnell passiert. Wenn dann am Morgen das Adrenalin des Spiels aus dem Blut draußen ist, tut es schon weh.



Abendblatt:

Während des Spiels spüren Sie nichts?

Roggisch:

Nein. Du kugelst dir den Finger aus, renkst ihn wieder ein, das merkst du gar nicht. Wenn du dann am nächsten Morgen aufwachst, denkst du, ein Lkw ist über dich drübergefahren. Aber wir haben gute Physiotherapeuten und einen guten Arzt, die stellen einen wieder her.



Abendblatt:

Sind Schmerzen Teil des Spiels?

Roggisch:

Auf diesem Niveau schon. Jeder Handballer muss sich damit auseinandersetzen, dass es auch mal wehtut. Die gewisse Härte macht es auch für die Zuschauer interessant.



Abendblatt:

Und für Sie ist es ein Kick?

Roggisch:

Absolut. Würde ich Tischtennis oder Volleyball spielen, würde mir etwas fehlen. Ich brauche den Körperkontakt, das Gefühl, sich auszupowern, alles zu geben. Wenn du dann gewinnst, ist es ein Riesengefühl.



Abendblatt:

Mit welcher Sportart ließe sich Handball denn vergleichen?

Roggisch:

Da fällt mir spontan nur Ultimate Fighting ein. Aber da ist kein Ball im Spiel, das wäre schnell langweilig.



Abendblatt:

Gibt es eine Schmerzgrenze für Sie?

Roggisch:

Bis jetzt habe ich sie noch nicht erreicht. Vielleicht ist es auch ein Ziel, sie zu erfahren. Du verlierst ein Spiel, aber du kannst den anderen in die Augen sehen, weil du an die Schmerzgrenze gegangen bist.



Abendblatt:

Woher nehmen Sie die Aggressivität?

Roggisch:

Die muss man selbst entwickeln. In der Kabine vor dem Spiel musst du den Knopf finden, um zu sagen: Okay, ich bin müde, alles tut weh, aber ich gehe da raus und bringe meine beste Leistung. Ist vielleicht eine Charaktereigenschaft von mir. Ich hatte nie das Riesentalent, sondern musste mir alles erarbeiten.



Abendblatt:

Für das, was Sie einstecken, sind Sie glimpflich davongekommen.

Roggisch:

Da täuschen Sie sich aber! Die ganz schlimmen Verletzungen sind mir vielleicht erspart geblieben, aber ansonsten war schon alles kaputt: Handgelenk, Sprunggelenk, Meniskus, die Nase dreimal gebrochen.



Abendblatt:

Wie schützen Sie sich vor Verletzungen?

Roggisch:

Ein trainierter Körper ist sicher weniger anfällig. Aber bei weit über 100 Spielen im Jahr gerät man an eine Grenze. Diese Belastung kann kein Körper lange mitmachen. Die Topspieler haben zwangsläufig Verletzungen. Und das Niveau leidet darunter, auch bei dieser WM. Dass ein Spieler wie der Franzose Bertrand Gille vom HSV seine WM-Teilnahme absagt, um seinem Körper Ruhe zu gönnen, kann nicht das Ziel sein. Wir wollen uns mit den besten Spielern der Welt messen.



Abendblatt:

Dürfen Handballer Gefühle zeigen?

Roggisch:

Als wir Weltmeister wurden, sind mir die Tränen gekullert. Vor Schmerzen habe ich aber noch nie geweint. Es gibt Spieler, die etwas wehleidiger sind. Das macht es für den Abwehrspieler noch reizvoller, ihn noch härter anzugehen, um ihn aus dem Konzept zu bringen.



Abendblatt:

Haben Sie bei den Schiedsrichtern einen schwereren Stand als andere?

Roggisch:

Sie erhalten vor jedem Turnier eine DVD, worauf sie achten sollen. Wenn man dann auf mehreren Aktionen zu sehen ist, kann sich das schon einprägen. Aber auch ich habe mir meine Gedanken gemacht, das merken die Schiedsrichter auch. Zwei Minuten wegen Trikotziehens schaden nur der Mannschaft. Wenn schon Zeitstrafe, muss es sich lohnen. Dann muss es richtig scheppern.