Sieben Mannschaften können noch auf den Titel hoffen - für Günter Netzer ein Beleg für die Schwäche der Münchner.

Abendblatt:

Herr Netzer, warum möchte in dieser Saison keiner so recht Meister werden? Ist die Liga zu schlecht, oder ist sie zu ausgeglichen?

Günter Netzer:

Es gibt keine Mannschaft, die beständig genug ist um sich abzusetzen. Die Bayern haben das größte Potenzial, aber es ist ihnen nicht gelungen, davon zu ziehen - das empfinde ich als schlechte Leistung. Das hätte nämlich aufgrund ihres Kaders längst passieren müssen. Sie haben aber das Glück, dass die anderen Klubs auch nicht wollen, eher nicht können. Da muss man alle mit einbeziehen, auch Leverkusen und Stuttgart. Die Konkurrenz ist nicht in der Lage, Kapital zu schlagen aus dem, was die Bayern in dieser Saison nicht hinbringen - bisher nicht hinbringen.



Abendblatt:

Bayern München ist nur Fünfter. Liegt es an einer Disharmonie zwischen Trainer und Team?

Netzer:

So weit will ich nicht gehen, das kann ich auch gar nicht beurteilen. Auffällig ist nur, dass die Mannschaft sehr unterschiedlich spielt, dass sie erstklassigen Leistungen schlechte folgen lässt. So etwas hat es in dieser Form noch nicht gegeben. Früher hat der FC Bayern auch mal schlecht gespielt, aber er hat seine Spiele gewonnen, das ist jetzt anders, den Bayern fehlt die Konstanz.



Abendblatt:

Was offenbar sechs andere Vereine nicht ausnutzen können.

Netzer:

Früher waren es immer nur zwei Klubs, die mithalten konnten, und wenn die schwächelten, waren die ohnehin weg. Jetzt ist es so, dass die anderen Klubs herangekommen sind.



Abendblatt:

Was trauen Sie dem FC Bayern in dieser Saison noch zu?

Netzer:

Es wird höchste Zeit. Die reden immer von einer Serie, die hingelegt werden muss, dann wird es nun allerhöchste Zeit. Und wenn sie eine Serie beginnen, dann sollte die in ihrem eigenen Interesse auch nicht so schnell enden, denn sonst werden sie wirklich kein Meister. Sie müssen sich auf die vorhandenen Stärken besinnen.



Abendblatt:

Wie sehen Sie Spitzenreiter Hertha BSC?

Netzer:

Ich denke, dass die Berliner ihr Glück im Moment nicht fassen können. Es freut mich sehr für den Trainer Lucien Favre, den ich aus Zürich kenne, er hat in Berlin erstklassige Arbeit geleistet. Es gehörte sehr viel Mut dazu, einen Trainer aus der Schweiz zu verpflichten, aber er ist ein seriöser Mann, er ist ein Taktik-Fuchs, wenn man ihm Zeit gibt, kann es etwas werden mit der Hertha. Die Berliner nehmen jetzt das, was die anderen nicht annehmen. Wenn die Bayern es zulassen, wird ein anderer Klub Meister - es geht nur über Bayern. Wenn das passiert, ist es eine sehr schlechte Leistung der Bayern.



Abendblatt:

Und der HSV?

Netzer:

Die Mannschaft wirkt auf mich noch nicht so gefestigt, als dass sie mit solchen Situationen wie jetzt souverän umgehen könnte. Souverän deswegen, weil zu dieser Chance, die es vor dem Wolfsburg-Spiel gab, einfach drei Punkte gehörten. Das hat der HSV versäumt. Die Mannschaft hat sich unter Martin Jol, den ich sehr schätze, zwar entwickelt, aber sie ist noch lange nicht fertig. Der HSV hatte eine riesige Chance, sechs Punkte auf Bayern München vorzulegen, aber er hat sie nicht genutzt - weil er noch nicht beständig genug ist.



Abendblatt:

Überrascht es Sie, dass Hoffenheim so abbaut?

Netzer:

Das ist eine der größten Überraschungen der letzten Jahre, was da mit Hoffenheim passiert ist. Nicht nur, weil der Aufsteiger ganz oben steht, sondern weil er uns verwöhnt mit einer Art Fußball, den man nie im Leben hätte erwarten können. Es war klar, dass es in der Rückrunde Probleme geben würde, denn alle nehmen Hoffenheim nun ernst - und zudem fallen jetzt mehrere wichtige Spieler verletzt aus. Trotzdem ist die Leistung von Hoffenheim bewundernswert. Egal wie das ausgeht - sie werden in den internationalen Rängen landen.



Abendblatt:

Wie beurteilen Sie den VfL Wolfsburg?

Netzer:

Ich schätze die Arbeit von Felix Magath sehr hoch ein, weil sie behutsam vonstatten geht. Er bleibt auf dem Boden, er weiß, dass es in diesem Jahr wohl noch nicht für die Meisterschaft reichen wird, aber er bewegt sich mit dem VfL stets in kleinen Schritten nach vorne. Ich finde dieses behutsame Wachstum in Wolfsburg sehr gesund.



Abendblatt:

Der VfL hat mit Grafite und Dzeko das vielleicht beste Sturm-Duo. Wieso gelingt es Wolfsburg, unbekannte und dennoch starke Spieler zu holen?

Netzer:

Eine interessante Frage. Tatsache ist: Eine große Stadt verlangt einen großen Star. Als ich bei Real Madrid war, mussten die Stars nach drei Jahren gehen, weil die Fans neue Stars forderten. Ich bewundere Klubs wie Hoffenheim und Wolfsburg. Da sind die Trainer gefragt, sie müssen die Spieler entwickeln, und da wird sowohl von Ralf Rangnick als auch von Felix Magath großartige Arbeit geleistet. Sie haben unbekannte Spieler zu hoch interessanten Profis geformt.



Abendblatt:

Wird es Klubs wie Leverkusen oder auch Stuttgart noch gelingen, ganz nach vorne zu stoßen?

Netzer:

Nein, es bleibt bei dieser Spitze. Hertha hat schon viele Punkte, der HSV ebenso - Leverkusen und Stuttgart sehe ich ohne große Chancen. Den HSV, der schon drei Punkte aus dem KSC-Spiel mehr hätte haben müssen (Hamburg verlor nach 2:0-Führung noch 2:3, die Red.), würde ich anstelle des FC Bayern aber schon sehr ernst nehmen.