Lissabon. Stadtplaner luden Künstler ein, die Wände zu verschönern. Heute ist die portugiesische Metropole ein Zentrum europäischer Streetart.

Lissabon, die abgeblätterte Schönheit, kann viele Geschichten erzählen. Manche gehen den Touristenführern täglich über die Lippen. Wie die der historischen Straßenbahn Nummer 28, die sich gelb leuchtend und angemessen quietschend durch die Gassen der Hafenstadt schiebt. Und die des Cafés Confitaria National, das seit 1829 portugiesisches Gebäck anbietet, natürlich auch den Blätterteigpudding-Traum Pastel de Nata. Oder wie die des filigranen Aufzugs aus dem Jahr 1902, der die Unterstadt Baixa mit dem höher gelegenen Viertel Chiado verbindet.

Seit einigen Jahren prägen zunehmend neue Geschichten die Metropole am Tejo. Wer offenen Auges durch Lissabon geht, kann sie sehen, sie prangen farbenfroh und großformatig an den Häusern der Stadt: Wandgemälde, auch Murals genannt, gemeinhin als Streetart bekannt. Kaum einer kennt sich mit dieser Kunst der Straße so gut aus wie Vasco T. Rodrigues, wortgewandter Experte der Lissabonner Szene.

„Mit diesem Bild fing alles an“, sagt Vasco euphorisch und deutet auf eine meterhohe Malerei, die eine bunt verhüllte Figur in Trainingsjacke zeigt. Das Gemäuer des Eckhauses direkt an der Metro-Station Picoas schimmert durch den kunstvollen Anstrich hindurch. Das Neue verbindet sich mit dem Alten.

Der Stadtrat startete 2010 das sogenannte Crono-Projekt

Streetart-Gemälde des brasilianischen Künstlerduos Os Gemeos an der Lissabonner Metro-Station Picoas.
Streetart-Gemälde des brasilianischen Künstlerduos Os Gemeos an der Lissabonner Metro-Station Picoas. © Birgit Reuther | Birgit Reuther

Vor acht Jahren schuf das brasilianische Künstlerduo Os Gemeos (zu Deutsch: die Zwillinge) dieses Werk, das – wie Vasco nicht ohne Stolz erzählt – groß durch die Presse ging. War es doch eines der ersten Murals, das vom damaligen Bürgermeister Lissabons höchstpersönlich genehmigt worden ist, wie unser Guide weiter ausführt. Die Geschichte dahinter ist ein faszinierendes Beispiel dafür, wie die Politik die vergleichsweise junge Kunst des Graffiti förderte, statt sie als Schmiererei zu verdammen. Und wie sich ein Ort somit auch touristisch neu erfand.

Der Stadtrat wollte die Fassaden Lissabons nicht ungeplant Kritzeleien und Sprühereien preisgeben und lud daher 19 internationale Künstler ein, ganz offiziell Wände zu gestalten, erläutert Vasco. Dank dieses sogenannten Crono-Projekts gilt die portugiesische Hauptstadt mittlerweile als heißes Pflaster für europäische Streetart.

Wer bei dem sympathischen Mann mit dem üppigen Fachwissen eine drei- bis vierstündige Tour bucht, der gelangt – im Kleinbus und somit in überschaubarer Gruppengröße – auch in entlegenere, absolut untouristische Viertel. Ein spannender Ausflug, denn ganz Lissabon wird so zur Open-Air-Ausstellung. Und jeder der „Straßenkünstler“ schreibt sich mit seiner ganz eigenen Handschrift in die Geschichte der Stadt ein.

Direkt um die Ecke von dem berühmten Mural der Zwillinge erstrecken sich an der Avenida Fontes Pereira de Melo drei flächendeckende Gemälde: Da hat der italienische Künstler Blu einen mürrischen König ans Gemäuer gezaubert. Der Spanier Sam3 lässt einen riesigen schwarzen Schatten die Straße entlangtanzen, und der Italiener Ericailcane bringt ein Krokodil zum Weinen.

„Sechs bis sieben Tage brauchen die Künstler für so ein Bild“, sagt Vasco, der seit Mitte der 90er Graffiti fotografisch dokumentiert und internationale Events der Szene organisiert. Seine Tour führt auch nach Graça, eines der ältesten Viertel, leicht östlich vom Zen­trum gelegen, in dem einst viele Intellektuelle, Dichter und Maler lebten, wie Vasco erzählt. Dementsprechend finden sich in diesem Areal besonders poetisch wie politisch aufgeladene Werke.

Ein Mosaik aus 53.000 Kacheln im Viertel Sao Vicente de Fora

So schuf beispielsweise der portugiesische Künstler Daniel Eime eine Hommage an die Lyrikerin Sofia de Mello Breyner Andresen (1919–2004). Die Urenkelin dänischer Einwanderer bezeichnete sich selbst als „Geschichtenerzählerin“, die Oden an das nahe Meer ersann, sich in Wort und Tat aber auch gegen das Salazar-Regime (1933–1974) in ihrem Land einsetzte. Von einem Wohnhaus an der Rua Josefa de Óbidos blickt uns ihr Gesicht an, schwarz-weiß geschwungen, mit ruhigem Blick.

Ihr Konterfei grenzt an eine Fläche mit blau-weißen Kacheln, wie sie zu Tausenden an portugiesischen Fassaden zu finden sind. Erneut eine schöne Verquickung des Gestern mit dem Heute. Denn letztlich sind Azulejos, jene aus Keramikfliesen gefertigten Wandbilder, die Vorläufer des Streetart-Trends.

Eine besonders beeindruckende Fortführung dieser Mosaikkultur ist das aus 53.000 Kacheln bestehende Werk des Franzosen André Saraiva im beliebten Viertel Sao Vicente de Fora. Zwei Jahre lang entwickelte der Sohn portugiesischer Eltern im Auftrag des Design- und Modemuseums Mude diese verspielte Vision seiner Ursprungsheimat, auch von seinen Wohn- und Wirkungsstätten Paris und New York.

Eine Arbeit des Kollektivs Licuado aus Uruguay im Stadtteil Marvila.
Eine Arbeit des Kollektivs Licuado aus Uruguay im Stadtteil Marvila. © Birgit Reuther | Birgit Reuther

Auf mehr als 800 Quadratmetern tummeln sich Schiffe, die auf die Seefahrergeschichte Portugals hinweisen, aber auch ein Buch des Volksdichters Pessoa sowie Wolkenkratzer, Regenbogen und Luftballons. Es macht großen Spaß, diese Strecke irgendwo zwischen Kunsthandwerk und Pop-Art entlangzulaufen – und sie auch als kunterbunten Hintergrund für das ein oder andere fotografische Selbstporträt zu verwenden.

Im Kulturzentrum wurde direkt ins Gemäuer gemeißelt

Die Geschichte der Streetart in Lissabon erzählt auch vom Wandel dieser zuletzt krisengeschüttelten Region. Vascos Tour bringt uns unter anderem zur Fábrica Braco de Prata – einst eine Pa­tronenfabrik, jetzt angesagtes Kulturzentrum.

Im Innenhof hat der Lissabonner Vhils seine Porträts mit einem Schlagbohrer direkt ins Gemäuer gemeißelt – eine Technik, die seine Kunst ganz unmittelbar mit dem Ort vereint. Seine nachdenklich schauenden Charaktere wirken wie eine Ergänzung zur Erzähltradition des Fado, jener melancholischen Liedkultur, die in Bars wie dem Tasca do Chico im Viertel Bairro Alto die Seele zum Schwingen bringt.

Zum Ende der kleinen Reise geht es am Tejo entlang weiter nach Osten. Fernab vom Zentrum Lissabons liegt Marvila, eine vom sozialen Wohnungsbau geprägte Nachbarschaft, deren Häuserwände das Muro-Festival 2017 farb- und fantasiestrotzend zum Leben erweckte. Alle paar Meter können Besucher in den Himmel ragende Streetart-Gemälde bewundern.

Besonders anrührend ist eine Arbeit des Kollektivs Licuado aus Uruguay. Sie handelt von einem Seefahrer, der die südliche Hemisphäre bereist, und von dessen Frau, die zu Hause geblieben ist. Die Distanz zwischen den Liebenden illustrieren die Künstler, indem sie die Wartende auf dem Kopf dargestellt zeigen. Das ist nur eine von vielen Geschichten, die Lissabon zu erzählen hat.

Tipps & Informationen

Anreise z. B. nonstop mit Ryanair oder TAP Air Portugal nach Lissabon.

Übernachtung Zum Beispiel im Tivoli Avenida Liberdade (ab 200 Euro pro Nacht): Grandhotel mit Bistro, Restaurant sowie einer Bar mit grandiosem Blick über die Stadt, zentral gelegen am historischen Boulevard Lissabons; www.tivoli-hotels.com

Tour Die Streetart-Tour mit Vasco T. Rodrigues ist buchbar über die Webseite Get Your Guide unter dem Titel „Lissabon: Die echte Lissabon-Straßenkunst-Tour“, Preis: 55 Euro pro Person. Mehr Infos unter www.­getyourguide.de.

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Tivoli Hotels.)