Lugano. Die sonnenverwöhnte Region verbindet Schweizer Bergwelt und italienische Lebensart. Schon Literaten wie Herrmann Hesse schätzten das.

Auf einer Seite die Berner und Walliser Alpen, auf der anderen Italien und der Luganer See zu Füßen. „Das ist eine der schönsten Aussichtsterrassen der Schweiz“, sagt Roberto Perrozzi. Auf der Spitze des Monte Brè, dem Hausberg Luganos, lassen sich verliebte Pärchen fotografieren, andere feiern Geburtstag oder genießen Steinpilz­risotto und Merlot.

Die steilen Serpentinen bergab schwingt auf einer anderen Terrasse der Koch Sevastian Stuica Pizzateig schwungvoll durch die Luft. Die kleinen und großen Gäste können ein knuspriges Stück davon kaum erwarten und schauen auf den See. „Tessin ist nicht ganz Schweiz und nicht ganz Italien“, sagt Roberto, der in Zürich aufgewachsen ist und dessen Familie aus Rom stammt.

Einer der sonnigsten Punkte der Schweiz

Eigentlich wollte er nicht hierher. „Ich lernte die Gegend an einem bilderbuchschönen Tag kennen und verliebte mich in den blauen Himmel“, sagt der 46-Jährige, der vor knapp zwölf Jahren mit seiner Frau die Leitung des Reka-Feriendorfs in Albonago oberhalb von Lugano übernahm. Reka steht für die Genossenschaft Schweizer Reisekasse, die in der ganzen Schweiz erschwingliche und familienfreundliche Ferienunterkünfte bietet.

Den Monte Brè, der als einer der sonnigsten Punkte der Schweiz gilt, die Seen und Trekkingwege in den Bergen möchte Roberto nicht mehr missen. Wir stoßen noch gemeinsam mit einem Nocino, dem typischen Tessiner Nusslikör, an und gehen anschließend auf die dritte Aussichtsterrasse. Für ein paar Tage ist sie unsere eigene. Mit den Palmen, die fast durchs Fenster wachsen, den hohen Zypressen, üppigen Rosen- und Hibiskussträuchern sieht es hier doch eher wie in Italien aus.

Tessin sollte man auch von der Seeseite entdecken

So zeitig im Jahr und so oft wie im Tessin scheint die Sonne sonst nirgends in der Schweiz. Dank des milden Klimas blühen die Blumen hier früher als anderswo, und auch in den höheren Lagen gibt es kaum Frost. Während man an vielen Orten in Deutschland noch friert und über Regen klagt, kann man hier schon ab Ende März bei wärmenden 17 Grad in Straßencafés sitzen und das Gesicht der Sonne entgegenstrecken.

Am nächsten Tag befolgen wir ­Robertos Rat, das Tessin unbedingt von der Seeseite aus zu entdecken und fahren von Lugano nach Gandria. Die herrschaftlichen Hotels an der Promenade und der rauschende Verkehr verschwinden langsam am Horizont. Die üppige Vegetation reicht fast bis an das Wasser heran.

Dazwischen stehen elegante ­Villen, und ab und an ragt der Steg eines Grottos, ein rustikales Lokal mit überwiegend im Freien stattfindendem ­Restaurationsbetrieb, heraus. Zwischen Sterneküche und einfachen guten Adressen hat das Tessin kulinarisch alles zu bieten. Typische regionale Speziali­täten gibt es vor allem in den Grotti. Hier kommen Salami und Käse, Rinderbraten, Schweinebäckchen, Kaninchen, Polenta und Risotto auf den Tisch.

Gandria schmiegt sich mit engen Gassen an den Berg

Vor uns schmiegt sich Gandria mit seinen engen Gassen an den Berg. Autos haben hier keinen Platz. Ein paar Besucher spazieren umher, aus einem Haus klingt ein italienischer Radiosender, die Wäsche trocknet vor der Tür – und immer wieder zeigt sich der See. Das einstige Fischer-Schmugglerdorf liegt direkt an der italienischen Grenze. Gleich gegenüber befindet sich das alte Zollhaus, das bis 1921 Grenzwacht und Zollposten war. Das heutige Zollmuseum ­erzählt von dem einsamen Leben der Zöllner und den Tricks der Schmuggler.

Größere Mengen Salami, Reis, Zigaretten und Pelze wurden über die Grenze geschmuggelt. Ein dafür geeignetes Boot mit einem Laderaum, der kaum die Seeoberfläche überragt, ist heute noch zu sehen. Aus unbekannten Gründen ließen es Schmuggler 1947 zurück. Wenige Schritte davon entfernt lädt die Cantine di Gandria zu regionaler Küche mit Aussicht ein.

Gute Eisdielen in Lugano

Wir lassen die Altstadt Luganos mit ihrem italienischen Flair, den guten Eisdielen und ihren eleganten Einkaufsstraßen hinter uns und fahren als Nächstes ins Hinterland. Schmale Straßen winden sich kurvig um die Berge, an tiefen Tälern und Kastanienwäldern vorbei. Nördlich von Lugano teilt der Monte Ceneri den Kanton in das südliche Tessin, das Sottoceneri und das wesentlich größere Gebiet im Norden, das Sopra­ceneri.

Im Süden ist die Landschaft mediterraner – die Städte Locarno und Ascona am Lago Maggiore sowie Lugano sind italienischer. Im Norden ist es gebirgig bis hochalpin, dort führen die Pässe wie der St. Gotthard in die restliche Schweiz.

Tessin war lange Zeit wirtschaftsschwach

Lange Zeit war das Tessin ein armes Land. Die kargen Böden ernährten die Familien nicht, die harten Winter in den Bergen waren in den einfachen Steinhäusern aus Granit schwer auszuhalten. Viele der alten Dörfer im Hinterland sind heute verlassen.

Auf knapp 1000 Meter Höhe erreichen wir in Vergeletto eine kleine Espressobar. „Hier ist das Tor zu den Alpen, schön zum Wandern, aber ihr solltet euch unbedingt die alten Maismühlen ansehen“, sagt der Inhaber und schiebt zwei Espressi über den Tresen. Tatsächlich klappert oberhalb der Dorfkirche ein Mühlenrad.

Eine alte Maismühle ist noch in Betrieb

Von fünf Mühlen ist heute nur noch eine im Betrieb. Der Lehrer Ilario Garbani Marcantini setzte sich für den Erhalt der alten Tradition ein und produziert heute noch das feine Maismehl „Farina bóna“. Seit dem 19. Jahrhundert wird Mais im Tessin angebaut und wie Roggen gemahlen. „Eine alte Müllerin aus Vergeletto entdeckte die beste Art der Verarbeitung“, sagt Garbani Marcantini.

Sie röstete die Maiskörner erst wie Kastanien auf einer Pfanne über dem Feuer und mahlte sie dann besonders fein. Früher gehörte das gute Mehl gemischt mit Milch, Wasser oder Wein zur Alltagskost. Heute wird es für Kuchen, Brot, Nudeln und Eis verwendet. „Es schmeckt nach Popcorn“, sagt die 14-jährige Lara aus Tübingen und löffelt ihren Eisbecher aus. Alle drei Jahre verbringt sie mit ihrer Familie die Ferien im Tessin. Besonders gefällt ihr das Maggiatal mit den Badestellen.

Flusstaucher schwärmen von der Farbigkeit des Maggia

Ebenfalls nördlich von Locarno liegt das Verzascatal mit tiefgrünem klarem Wasser und Gesteins- und Felsformationen. Die Täler sind nicht nur bei Badegästen, sondern auch bei Flusstauchern beliebt. Am südlichen Ende des Tals schälen sich auf einem Parkplatz Simone und Luca Resinelli aus ihren Neoprenanzügen. „Diese unterschiedlichen Farben je nach Tageszeit sind einmalig, das ist besser als auf den Malediven“, sagt Simone. Die beiden lieben es, nach der Arbeit in den 16 Grad kalten Fluss abzutauchen und anschließend in einem Grotto ein kühles Bier zu trinken.

Für eine großartige Aussicht auf den Lago Maggiore, die Umgebung bis zu den Alpengipfeln, lohnt eine Fahrt mit der Seilbahn auf den 1340 hohen Car­dada. An den Uferpromenaden von Locarno und Ascona ist viel Betrieb, auch auf Locarnos Piazza Grande sind die Cafés gut gefüllt.

Wir genießen das Tessin noch einmal vom Wasser aus und fahren zu den Brissago Inseln mit ihrem botanischen Garten. Mitten im See umgeben von Palmen, Bambushainen und blühenden Exoten, kurz vor Italien und mit Cappuccino auf der Terrasse einer herrschaftlichen Villa: Das ist Dolce Vita im Tessin. Schon der Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse schwärmte von seiner Wahlheimat Tessin: „Sie ist wunderbar reich und schön, und vom Alpinen bis ganz Südlichen ist alles da.“ Es wurde ein Sehnsuchtsort für viele. Erst kamen Literaten, Künstler und Aussteiger, später die Reichen und Schönen. Seinen Charme hat das Tessin bis heute nicht verloren.

Tipps & Informationen

Anreise z. B. mit Swiss Air über Zürich nach Lugano-Agno. Mit dem Auto aus dem Norden über die Alpenpässe Nufenen, St. Gotthard, Lukmanier und San Bernardino.

Unterkunft Reka, die Genossenschaft Schweizer Reisekasse, bietet familienfreundliche Ferienunterkünfte mit vielen Vergünstigungen und Zusatzangeboten, z. B. Programm für Kinder. Unterkunft pro Woche ab 500 Euro. reka.ch

Unterwegs Mit dem Swiss Pass haben Reisende freie Fahrt auf dem gesamten Netz des Swiss Travel Systems. Bei dem Swiss Flexi Pass sind Straßenbahnen und Busse in 37 Städten, 50 Prozent Rabatt auf die meisten Bergbahnen, Gratiseintritt in die meisten Museen inbegriffen. Mit der Swiss Card kann man gratis vom Grenz- oder Flughafen oder Bahnhof zum Zielort und zurück reisen, Fahrkarten für Bahn, Bus und Schiff erhält man zum halben Preis. www.sbb.ch; www.swisspass.ch

Auskunft ticino.ch, myswitzerland.com

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung von Schweiz Tourismus.)